Mittwoch, der Wochenteiler

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Essaywettbewerb des DKH

Ausgabe Nr. 2729

Irina Milea. Foto: Privat

Mit 17 Minuten Verspätung macht Seba die Tür auf, murmelt einen „’ten Morgen!“ und setzt sich auf seinen Platz. Komisch, wie alle Kursteilnehmer den ersten Sitzplatz für immer beibehalten, als gäbe er ihnen Halt und Sicherheit in der labyrinthischen Welt der deutschen Grammatik. Komisch ist heute aber auch Sebas Haltung: blass im Gesicht, mit verschwitzten Haaren und zittrigen Händen, schaut mir nicht ins Auge und sitzt krumm vor mir. Ich warte eine Minute länger als sonst und traue mich endlich zu fragen:

„Seba, wie viele hast du heute schon geraucht?“

„Etwa 17.“

„Waas? Und wieder kein Frühstück?“

„Hab’ seit vorgestern nichts mehr gegessen. Sie ist gegangen. Diesmal ist Schluss.“

Er spricht leise, mit kurzem Atem und wird noch bleicher um die Nase. Ich erkenne wie aus einem alten Roman die ersten Anzeichen einer Panikattacke, wo der Mensch vor dir sitzt und doch abwesend wirkt. Ein kalter Schauer läuft mir über den Rücken und ich schnappe bewusst nach Luft. Ich grübele und grübele. „Die Spiegeltechnik!“ schießt mir endlich durch den Kopf.

„Seba, hör mir zu. Vor meinen Augen sitzt der gleiche junge Mann wie letzte Woche. Egal, was dir zugestoßen ist, du bist der gleiche Seba. Du bist der gleiche Seba!“ wiederhole ich ausdrücklich. Sogar auf Rumänisch. „Ich bringe dir jetzt ein Glas Wasser.“

„Nein, lassen Sie es, ich brauche nix. Ich brauche nix mehr.“ Sein energisches Widersprechen scheint ihm gut zu tun und Seba beginnt zeitlupenartig zu schluchzen. Ich schiebe ihm meine Taschentücher rüber und wundere mich, was los ist. Seba wird mit seinen guten Deutschkenntnissen unter den Kollegen hoch geschätzt und sehr oft um Rat gefragt. Seit fast 2 Jahren wurden ihm keine Fehler in der großen Tabelle vorne am Empfang zugeordnet und sein Team erreichte ständig die niedrigste Fehlerquote.

„Einen schönen guten Morgen! Alles im Grünen? Oder in Butter? Wie hieß das noch gleich?“ sprudelt es nur so aus Eliza heraus und sie bleibt vor Sebas rotem Gesicht wie angewurzelt stehen.

„Seba ist heute erkältet. Guten Morgen, Eliza! Schon wieder viel Verkehr? Alles in Butter! heißt so etwas wie Alles in Ordnung! und deutet auf die alten Zeiten zurück, als die Butter nur in reichen Haushalten zum Kochen von feinsten Speisen oder zum Transport von teuren Kristallwaren verwendet wurde. Man öffnete die Kisten mit den Kristallgläsern, die dank einer dicken Butterschicht unversehrt ans Ziel angekommen waren und man rief erleichtert: Alles in Butter!“

„Hat dich die Sitzung von gestern so geärgert, Seba?“ fragt Eliza und guckt mich dabei an. „Er hatte im letzten Monat zwei Rechtschreibefehler und der Teamleiter hat sein 200-Lei-Bonus gestrichen. Total blöd.“

„Ich erinnere mich noch ganz genau an die letzte Sitzung, als man dir Beifall klatschte!“ versuche ich entschieden, die Sache auf den Punkt und Seba zum Reden zu bringen.

„Dann erinnern Sie sich auch an das Geschenk für meine fehlerfreien 18 Monate: ein Modelllauto und eine Minute Applaus! Das Ganze ist sekundenschnell in Vergessenheit geraten, sobald ich ein einziges Mal nach der Anrede aus Versehen groß weitergeschrieben habe – weil die blöde E-Mail-Software auf Englisch eingestellt ist und wir immer nachbessern müssen. In der Eile habe ich auch noch hinzugefügt: Mein Kollege kümmert sich mit der Pflege der Datenbank.“ verzieht Seba schmerzhaft sein Gesicht.

„Erinnern Sie sich noch an unseren ersten Deutschkurs hier?“ frage ich die beiden.

„Wir haben unsere Namensschilder mit der linken Hand beschriftet, das war aber lustig!“ schmunzelt Eliza. „Hier, das Schild benutze ich noch als Lesezeichen. Hab’ so schief geschrieben!“

„Genau das meine ich. Es hat sich unnatürlich angefühlt, die ersten Buchstaben sind schief geraten und ihr habt euch alle bemüht, lesbar zu schreiben. So ist es auch mit dem Deutschlernen: Jede Fremdsprache zieht einen aus seiner Komfortzone heraus und am Anfang strengt man sich wirklich an, richtige Sätze zu formulieren. Dieses unangenehme Gefühl ist aber ein Beweis dafür, dass wir uns weiterentwickeln. Das Gehirn geht neue Wege ein und weigert sich, dafür wertvolle Lebensenergie zu verschwenden. Da hilft nur konsequente Übung, bis das Gehirn endlich einsieht, dass es mehr Energie verbraucht, Widerstand zu leisten als sich zu fügen. Klein weiterschreiben ist nach der Anrede ein Zeichen von gepflegtem Sprachgebrauch in der deutschen Korrespondenzführung. Die Verben mit Präpositionen sind auch ein perfektes berufssprachliches B2-Beispiel in dieser Richtung. Wie lautet es eigentlich richtig?“

„Sich kümmern um plus Akkusativ“ flüstert Seba mit gebrochener Stimme.

„Eliza, worum haben Sie sich gestern im Büro gekümmert?“ versuche ich, den Kontext eisern zu schmieden, solang er noch heiß ist.

„Um den Kaffee für die Kollegen!“ strahlt Eliza und Seba richtet sich erleichtert auf. Eine unsichtbare Last scheint von seinen Schultern abzufallen und endlich kann ich mit dem ersten Deutschkurs des Tages anfangen. Mittwochs sind es fünf.

„Bitte öffnen Sie die Kursbücher auf Seite 97!“ rufe ich entschieden in die Runde und merke erst jetzt, dass mein Kleid kalt und nass am Rücken klebt.


Essaywettbewerb des DKH

An dem von dem Deutschen Kulturzentrum Hermannstadt (DKH) in diesem Jahr erstmals ausgeschriebenen Essay-Wettbewerb zum Thema Förderung der deutschen Sprache und Kultur beteiligten sich 28 ErzieherInnen und Deutschlehrende aus ganz Rumänien. Der 1. Preis ging an Juliane Henning, zur Zeit Lehrerin an der Gustav Gündisch-Schule in Heltau (4. Klasse), der 2. Preis an Sonia Maria Chwoika, Deutschlehrerin am Diaconovici Tietz-Lyzeum in Reschitza, der 3. Preis an die freiberuflich tätige Deutschlehrerin Irina Milea (Hermannstadt).

In dieser Ausgabe lesen Sie den Beitrag der Drittplatzierten.

 

 

Veröffentlicht in Aktuelle Ausgabe, Bildung.