Kurzporträts der Rahel Varnhagen und der Franziska zu Reventlow (Teil I)
Ausgabe Nr. 2722

Rahel von Varnhagen (1771-1833)
Zwei literarisch und gesellschaftlich einflussreiche Frauen ihrer Zeit, die – im Abstand von hundert Jahren – fast auf den Tag genau – in Deutschland geboren wurden, verdienen es, der Vergessenheit entrissen zu werden. In ihrem jeweiligen Wirkungskreis traten sie aktiv für die Emanzipation der Frau ein, indem sie gegen die Rollenmuster rebellierten, die ihre Familien für sie vorgesehen hatten. Beide mussten viele Schwierigkeiten überwinden, stießen dabei auch auf Ablehnung, erwarben sich aber nicht nur Respekt, sondern auch Bewunderung und Beliebtheit. Der Beitrag in der aktuellen HZ-Ausgabe ist Rahel von Varnhagen, geb. Levin gewidmet, in der nächsten Ausgabe wird Franziska von Reventlow gedacht.
Rahel wurde am 19. Mai 1771 in Berlin als Tochter des jüdischen Bankiers Markus Levin geboren – als ältestes Kind, dem noch vier weitere folgen sollten. Während ihre jüngeren Brüder höhere Schulen besuchten, wurde sie von Hauslehrern unterrichtet. Für ein Mädchen ihrer Schicht und ihrer Zeit erwarb sie eine beachtliche Allgemeinbildung, nahm Tanz- und Musikunterricht, lernte mehrere Fremdsprachen und ging auf Reisen. Mit 23 Jahren fährt sie mit den Eltern nach Breslau, wo sie die ostjüdisch-schlesischen Verwandten des Vaters kennenlernt, deren rückständige Lebensart sie abstößt. Eine arrangierte Ehe mit einem Mann dieses Milieus lehnt sie ab. Sie hadert mit ihrer Benachteiligung als Frau und mit ihrer jüdischen Herkunft, weil sie ihre vielfältigen Talente nicht voll entfalten kann. Sie liest viel und schwärmt vor allem für Goethe, dem sie zum ersten Mal 1795 im böhmischen Karlsbad begegnet. Ihre Erscheinung und ihr Wesen werden von Goethe treffend charakterisiert: „Sie ist stark in ihren Empfindungen und doch leicht in ihrer Äußerung, …bewegt und doch ruhig – kurz, sie ist, was ich eine schöne Seele nennen möchte.“
Nach dem Tod des Vaters (1790) muss Rahel teilweise den Haushalt übernehmen, während die Mutter und der älteste Sohn das Geschäft führen. Auf Dauer ist Rahel mit ihrer Rolle als „Hausfrau“ unzufrieden. Da kommt Mitte der 1790er Jahre die Idee der Salons nach französischem Vorbild in Preußen auf, die meist von gebildeten „höheren Töchtern“ (den Salonièren) hugenottischer oder jüdischer Abstammung geleitet werden. Hier treffen auf ungezwungene Weise Adlige, Bürger, KünstlerInnen und LiteratInnen aufeinander, die sich bei Speis und Trank und musikalischer Begleitung über Neuigkeiten in der Literatur und Kunst unterhalten. In diesem Umfeld werden auch erotische Beziehungen zwischen PartnerInnen unterschiedlichen Standes angebahnt. Es ist die Zeit der Romantik. Auch Rahel beginnt 1796 ein erstes Liebesverhältnis mit dem Grafen Karl von Finckenstein, das schon um 1800 endet. Die Standesschranken verhindern die Heirat zwischen einem Adligen und einer Jüdin, auch wenn diese wohlhabend ist.
Rahels erster Salon zwischen dem Berliner Alexanderplatz und dem Brandenburger Tor entwickelt sich neben dem von Henriette Herz zum bekanntesten der preußischen Hauptstadt. Ihr größtes Talent besteht darin, ein Netzwerk von Freundinnen und Freunden zu knüpfen, zu dem zahlreiche namhafte Leute gehören (z. B. Wilhelm und Caroline v. Humboldt, Prinz Louis Ferdinand, dessen schöne Geliebte Pauline Wiesel, Friedrich und Dorothea Schlegel u. v. a.).
Diese Salongeselligkeit (,,meine ‚Menagerie‘) dauert etwa zehn Jahre und findet mit dem siegreichen Einzug Napoleons in Berlin nach der Schlacht bei Jena und Auerstedt im Oktober 1806 ein Ende, weil zahlreiche bisherige Salonbesucher aus der Hauptstadt geflohen sind.
Rahel geht 1808 eine Beziehung zu dem 14 Jahre jüngeren Karl August Varnhagen ein, der noch keinen konkreten Berufswunsch hat. Er ist ein Bewunderer der Französischen Revolution und im Herzen Republikaner. Dennoch nimmt er 1811 ein Adelsprädikat an und trägt fortan den Namen Varnhagen von Ense. Schließlich gelingt ihm der Eintritt in den diplomatischen Dienst; außerdem ist er als Publizist tätig. Im Jahr darauf werden infolge der preußischen Stein-Hardenberg-Reformen die Juden den anderen Bewohnern Preußens gleichgestellt. Damit steht der Taufe Rahels und ihrer Vermählung mit Varnhagen nichts mehr im Wege: 1814 wird beides vollzogen und Rahel glaubt nun, den „Makel“ des Judentums abgestreift zu haben. Sie wird aber bis an ihr Lebensende weitere Diskriminierungen – selbst durch ehemalige FreundInnen – erfahren und sehr darunter leiden.
Die von gemeinsamen Interessen geprägte „Arbeitsehe“ mit Varnhagen entwickelt sich zu einem erfolgreichen Unternehmen. Varnhagen wird zwar nach dem Wiener Kongress auf Betreiben Metternichs aus dem diplomatischen Dienst entlassen, aber er erhält eine auskömmliche Pension. Rahel ist durch das väterliche Testament finanziell unabhängig. Ihr Gatte, der sie um 25 Jahre überlebt, wird ihren Nachruhm mehren, weil er als eifriger Sammler ihren Briefwechsel schon kurz nach ihrem Tod herausgibt („Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde“, 1833).
Rahel war nicht als Schriftstellerin erfolgreich wie einige ihrer FreundInnen, sie ist vielmehr als unermüdliche, originelle Briefeschreiberin berühmt, die darin die Gedanken ihrer Salongespräche fortsetzt und fortentwickelt. Einem Freund gegenüber bezeichnet sie sich einmal als „Mephistoteles“ (Aristoteles und Mephisto in einer Person). Ihre letzten Lebensjahre sind auch von Krankheiten (Rheuma, Gicht) überschattet – und von neu aufflammenden Judenverfolgungen, die von den nationalistischen Burschenschaften ausgehen. Sie überwindet jedoch Krankheiten und Selbstmitleid durch „Lebensliebhaberey“. Es gelingt ihr nach ein paar unerfreulichen Jahren in Karlsruhe, wohin sie ihrem dienstlich versetzten Mann folgen musste, in Berlin ab 1819 einen zweiten Salon zu begründen, in dem der Philosoph Hegel, der Historiker Ranke, der Naturforscher Alexander von Humboldt, der Parkgestalter Fürst Pückler und Bettina v. Arnim verkehren. Auch Heinrich Heine kommt mehrfach nach Berlin und wird von Rahel enthusiastisch empfangen. Das Ehepaar Varnhagen besucht 1825 und 1829 Goethe in Weimar, der ihr Dank dafür schuldet, dass sie seinen Ruhm in Berlin gemehrt hat.
Die Existenz dieses zweiten Salons mit einer Dauer von ebenfalls rund zehn Jahren nimmt ein abruptes Ende, als in Berlin 1831 die Cholera ausbricht. Rahel hilft bis zur Erschöpfung bei der Pflege und Unterstützung mit Medikamenten und Lebensmitteln und hält erstaunlich moderne Hygiene-Regeln ein (Quarantäne!). Ihr Gatte und sie überstehen die Epidemie, sie kümmert sich liebevoll um Nichten und Neffen und deren Kinder. Sie stirbt an einem Schlaganfall im Beisein von Varnhagen am 7. März 1833. Nach seiner Überlieferung soll sie sich auf dem Totenbett mit ihrer Herkunft ausgesöhnt haben: „Was so lange Zeit meines Lebens mir die größte Schmach, das herbste Leid und Unglück war, eine Jüdin geboren zu sein, um keinen Preis möchte ich das jetzt missen.“
Heinrich Heine schreibt dazu: „Es ist, als ob die Rahel wusste, welche posthume Sendung ihr beschieden war. Sie glaubte freilich, es würde besser werden, und wartete; doch als das Warten kein Ende nahm, schüttelte sie ungeduldig den Kopf, sah Varnhagen an, und starb schnell – um desto schneller auferstehen zu können.“
Welch anderen Lebensweg schlägt Franziska (Fanny) zu Reventlow, die sinnenfrohe Bohemienne ein, die am 18. Mai 1871 in Husum (Theodor Storms Geburtsstadt) als fünftes Kind des preußischen Landrats Ludwig Graf zu Reventlow zur Welt kommt. Ihre Mutter Emilie war eine geborene Gräfin zu Rantzau.
Konrad WELLMANN
Literaturhinweise
Carola Stern: Der Text meines Herzens. Das Leben der Rahel Varnhagen, Reinbek bei Hamburg 1994
Hannah Arendt: Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik, Piper München 1959