Eine rumänisch-deutsche Familiengeschichte
Ausgabe Nr. 2705
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Yvonne Hergane (links) bei ihrer ersten Teilnahme an den ,,Reschitzaer Deutschen Literaturtagen“ im Jahr 2019, mit der Temeswarer Autorin Edith Guip-Cobilanschi (rechts). Foto: Beatrice UNGAR
Edith, Marita, Ellie und Hanne sind vier Mütter, deren Lebensbögen sich über 120 Jahre spannen. Über vier Generationen hinweg verfolgt Yvonne Hergane in ihrem Debütroman „Die Chamäleondamen“, der Ende vergangenen Jahres im MaroVerlag in Deutschland erschienen ist, eine banatdeutsche Familiengeschichte, die in Reschitza beginnt und in Hamburg endet.
„Je fiktiver ein Buch, desto höher der Wahrheitsgehalt. Kondensiert und verdichtet wie ein Diamant funkelt die Echtheit demjenigen ins Auge, der die Erdschichten darüber wegzuwischen weiß.“ Mit diesem Vorwort beginnt die 1968 in Reschitza geborene und zweisprachig aufgewachsene Yvonne Hergane ihren Debütroman „Die Chamäleondamen“. Debütroman, aber nicht die erste Publikation der Autorin, die davor mehrere Kinderbücher, darunter „Einer mehr“, das Kinderbuch, das für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert wurde und „Sorum und Anders“, für das sie den Leipziger Lesekompass erhielt, verfasst hatte.
Schon der Umschlag, der aus einer Collage mit privaten Fotos besteht, deutet auf den autobiografischen Inhalt des Romans hin. Ein Stammbaum zu Beginn hilft dem Lesenden ganz besonders, sich zurechtzufinden. In chronologischer Reihenfolge beginnt das Buch mit Urgroßmutter Ediths Hochzeitsnacht im Jahre 1919 in Reschitza. Die frische Braut flieht zu ihrem Geliebten und späteren Vater ihrer Tochter Marita. Letztere geht für die große Liebe ins Gefängnis und ihre Tochter Ellie führt auch keine einfache Ehe. Ihr Mann Connie flieht nach Deutschland, Ellie und Tochter Hanne ziehen nach, sobald die Ausreiseerlaubnis da ist.
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Yvonne Hergane: Die Chamäleondamen. Maro-Verlag Augsburg, 2020, 240 Seiten. Einbandgestaltung: Eva Wünsch; ISBN: 978-3875124934
Das Buch liest sich am Anfang etwas stockend, denn die Autorin wechselt zwischen den Jahren und den Protagonistinnen, von Reschitza nach Augsburg und später Hamburg. Der Stammbaum ist daher eine große Hilfe. Der Roman liest sich wie ein Puzzle, das aus Erinnerungen besteht und zum Schluss ein Gesamtbild hergibt. Die Reise beginnt nach dem Ersten Weltkrieg, führt kurz durch die Wirren des Zweiten Weltkriegs, um dann etwas mehr im kommunistischen Rumänien zu verharren. Ein wichtiger Teil der Geschichte ist jener der Einwanderung nach Deutschland, und dem Integrationsprozess in der Bundesrepublik sind ebenfalls mehrere Seiten gewidmet worden. So zum Beispiel: „In der neuen Schule bekommt Hanne schlecht vergorene Gerüchtegerichte serviert, als Vorspeise das Vorurteil, Rumänen hausten in Erdlöchern, als Hauptgericht die Verwunderung, dass Hanne elektrischen Strom kennt, Flashdance aber nicht, und zum Nachtisch der Vorwurf, der deutsche Staat hätte sie mit Zigtausenden von Mark für den Verlust ihrer Villen entschädigt. Keinem scheint aufzufallen, dass das alles so gar nicht zusammenpasst und -schmeckt.“
Etwas Besonderes ist die verwendete Sprache. Nicht selten stolpert man über Wortkonstruktionen, die sich die Autorin sehr genau ausgedacht zu haben scheint, wie zum Beispiel „Heimwehbauch“, „Schwimmerschneegulag“, „Wehmutterherz“ oder „Abendschulellbogen“.
Sehr bildliche Aussagen machen das Lesen zum Genuss: „Erinnerungen sind wie Taschentücher in der Schachtel, kaum hat man eine am herauslugenden Zipfel gepackt und ans Licht gehoben, zieht sie schon die nächste hinter sich her, und die nächste, die nächste, ad infinitum oder eben bis die Schachtel, die sich Leben nennt, leer ist.“
Und dann ist da noch das köstliche Banaterdeutsch, das dem Roman viel Pepp und seine Einzigartigkeit gibt: „Drei Lei! Du hast denne Oaschkapplmuster mit ihrem abgschleckten Führer aa no Geld in Hals gsteckt? Kaan Groschn hams verdient, nur an Oaschtritt!“
Der Roman „Die Chamäleondamen“ besticht mit seinen Kurzgeschichten, die wie Anekdoten mit einer unsichtbaren Schnur vier Lebensgeschichten miteinander verbinden. Schon wegen der Sprache ist das Buch, das inzwischen für die Liste „Bayerns Beste Independent Bücher 2020“ ausgewählt wurde, absolut lesenswert.
Cynthia PINTER