Zum Gedenken an den ehemaligen Großpolder Pfarrer Wolfgang Rehner
Ausgabe Nr. 2705
Stadtpfarrer Wolfgang Rehner i. R., geb. am 13. April 1936, war einst Vikar in Großpold und kam 1968 als gewählter Pfarrer nach Großpold. Ein junger Pfarrer von nur 32 Jahren, in einer sehr herausfordernden Gemeinde. Die Pfarrfamilie bestand aus dem Ehepaar Wolfgang und Gertrud Rehner geb. Knall, der Tochter Gertrud, dem Sohn Wolfgang, der Tochter Maria, sowie dem kleinen Martin, den die Oma im Arm hielt. In der Großpolder Zeit kam später das jüngste Kind, Johannes, zur Welt.
In Großpold wurde viel von ihm erwartet. Da war ein intensiver kirchlicher Unterricht zu gestalten, mehr als 50 Kinder in manchem Jahrgang. Stolze Presbyter, Kirchenväter und Kuratoren, ,,Adjuvanten“ für Festlichkeiten und Trauermusik bei jedem Begräbnis; die Bibelstunden, Frühgottesdienst und Vesper in der Fastenzeit, das ,,Leiden nach dem Evangelisten Matthäus“ im Stile von Heinrich Schütz von den Adjuvanten jeden Gründonnerstag- und Karfreitag aufgeboten. Nachbarschaften, Bruder- und Schwesternschaften. Die auf Pfarrer Scherg aus Kronstadt zurückgehende Sonntagschule. Fromme Frauen, die regelmäßige Andachten brauchten. Das Herz des neuen Pfarrers aber schlug ganz besonders für die Jugendarbeit.
Wolfgang Rehner in Großpold. Seine pädagogische Ausbildung in Hermannstadt vor seinem akademischen theologischen Hochschulstudium in Klausenburg und Hermannstadt wirkte sich für seine Begabung als Lehrer besonders günstig aus. Er holte die Jugend sozusagen von der Straße jeden Samstagabend in die Kirche zur ,,Jugendstunde“. Die frisch konfirmierten Jahrgänge waren fast vollzählig seiner Einladung gefolgt. Er sang gerne mit den Jugendlichen und er führte sie – meist durch das Medium des Vorlesens und des Erzählens aber auch durch projizierte Diabilder zu Erfahrungen mit der Tradition des christlichen Glaubens, mit Bibel und Frömmigkeit. Er wagte beides: Sowohl Rüstzeiten als kirchliche Ausflüge in die Berge als auch Besuche mit der Jugendgruppe in andere Gemeinden. ,,Jugend für Christus“ zur Gitarre auf dem Marktplatz in Gast-Gemeinden gesungen, das gefiel dem rumänischen Geheimdienst keineswegs. Aber eine politische Tauzeit ermöglichte es, in der Grauzone des zwar nicht Erlaubten aber auch nicht ausdrücklich Verbotenen, Wege für die Jugendarbeit zu finden. Er bereitete Reformations-, Krippen- und Verkündigungsspiele vor. Meist in vollen Kirchen und mit begeisterten Zuhörern wurden sie dargeboten. Die Darsteller traten selbstverständlich zurück, um dem Evangelium den Vortritt zu überlassen.
Neue Musikklänge gab es in der Kirche durchaus zu hören, wenn Jugendliche auftraten. Etwa das auf dem religiösen Markt neue Lied: ,,Danke für diesen guten Morgen“ (1961), das er der jugendlichen Vorbereitungsgruppe für die Sonntagschule beibrachte, das auf uns Eindruck machte. Er bediente sich neuen Liedgutes aus beiden Teilen Deutschlands. Gerne griff er auf pietistisches Liedgut aus ,,Jesu Name nie verklinget“ zurück. Seine Frömmigkeit neigte sicher dem Pietismus zu. Pfarrer Rehners Frömmigkeit war aber zugleich rituell-liturgisch, d. h. er hatte seine Freude sowohl an den Wochenschlussvespern der Michaelsbruderschaft nach dem Evangelischen Tagzeitenbuch, wie sie schon sein Vorgänger mit jedem Konfirmandenjahrgang in der großen Kirche feierte, als auch an der liturgischen Ordnung der Landeskirche, die auf die Preußische Agende zurückging.
Der Jugendarbeit damals und dort blieb die Mühe erspart, durch Sport, Spaß und Spiel junge Leute für den Glauben und die Kirche zu gewinnen. Wer Hören konnte, verstand. Man konnte Hören lernen, weil es etwas zu hören gab! – Der Auftakt meiner Bekanntschaft mit dem neuen Pfarrer war die Einladung an sein Krankenbett im Pfarrhaus, das er hüten musste, obwohl er vor dem Reformationsfest Besseres zu tun gehabt hätte. Mit meinem guten Freund Karlheinz traten wir also an, probten und feilten bis es ihm gefiel, – um pünktlich im Festgottesdienst zur Reformation – mit ,,Feste-Burg-Choral“ der Adjuvanten – für nicht weniger als 300 Gottesdienstbesucher in der schlechten Akustik der großen Kirche für jedermann verständlich C. F. Meyers ,,Lutherlied“ auswendig zu deklamieren: ,,Ein Vöglein blickt zu ihm ins Grab/, ‚Luthere‘, singt’s, ‚wirf ab, wirf ab,/Ich flattre durch die lichte Welt,/Derweil mich Gottes Gnade hält‘.“
Im Lichte dieses Evangeliums wurden wir in der Jugendstunde jahraus jahrein über aktuelle Zeitereignisse informiert: Über das Leben lutherischer Kirchen im Ausland (Wolfgang Rehner war Vertreter unserer Landeskirche im Lutherischen Weltbund), über den Rückblick auf das Zweite Vatikanische Konzil, manchmal über Tagesereignisse aus dem Neuen Weg. – Meine Erinnerung stellt mir die fortlaufende Lektüre von Ina Seidels Roman ,,Lennacker“ vor Augen, die eine Pfarrerdynastie in 12 Generationen beschreibt, nicht ohne dabei ein Stück Frömmigkeits- und Theologiegeschichte zu vermitteln. Dort hörte ich zum ersten Mal den Namen Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, des überragenden Berliner liberalen Theologen, der sich um die Gebildeten unter den Verächtern des Glaubens bemühte, wenn er Glaube als ,,Geschmack für die Unendlichkeit“ den kritischen Zeitgenossen nahelegte. Da aber ein solcher Name und solche geistigen wie geistlichen Gedanken und Bewegungen im von der materialistischen Ideologie beherrschten Unterrichtswesen nicht vorkamen, füllte Pfarrer Rehner eine Lücke, die manchen bildungshungrigen Großpolder mit neuer Nahrung versorgte. Dieser Glaube, der die Konkurrenz mit den Naturwissenschaften nicht zu scheuen brauchte, weil er ihn in anderer Weise längst gewonnen hatte, war mir mehr als willkommen.
,,Das ewige Licht“ –Krippenspiel, wiederholte Male aufgeführt, führte sozusagen ins Herz des christlichen Glaubens durch ein kleines Drama, das die Christgeburt als die Erfüllung der großen Gottesverheißung in Szene setzte. Manch ein Darsteller von beinahe Charakter- Rollen, sprach nicht nur den Text des Verfassers, sondern verkündigte bewusst, wie Gottes Heil in der Geburt des Gottessohnes gegenwärtig wurde. Spieler und Spielerinnen fanden zueinander mit zu seelsorgerlicher Sanftheit gezähmtem jugendlichen Drang. Jugend im Raum der Kirche, wahrlich keine Selbstverständlichkeit im Kommunismus!
Nur am Rande bekam ich mit, dass der Pfarrer sicher manche in Großpold bestehende Spannungen auszugleichen oder auszuhalten hatte: Etwa jene zwischen den frommen Frauen der Bibelstunde und den traditionellen Trägern des Presbyteriums und der Gemeindevertretung, an der einer seiner Vorgänger, Pfarrer Gerhardt Julius Schaser (in Großpold 1933-1951) gescheitert war. Die von der Gemeinde Großau bekannte Auseinandersetzung zwischen ,,Landlern und Sachsen“ gab es in Großpold nicht. Mit den Gemeindegliedern, die sich von der Familie her als Sachsen verstanden und die Mundart in der Familie sprachen, verständigte sich der Pfarrer selbstredend auf Sächsisch. Mit den Landlern sprach er Hochdeutsch.
Gewiss, wir waren damals mit dem Schwarzbrot des Glaubens zufrieden. Es mundete uns und ließ uns in der Gottesfurcht aufwachsen, die stärker war als die Furcht vor den politischen Machthabern. Ich selber suchte und fand in Wolfgang Rehner damals meinen Pfarrer, dem ich vertrauen konnte, bei dem ich seelsorgerliche Zuwendung erwarten durfte, der mitten im verordneten religiösen Vakuum der Gesellschaft verborgene Schätze anbieten konnte. Aus seiner Bibliothek lieh ich die Broschüre über Martin Luther aus, die ich heimlich abschrieb. Hunger nach der Wahrheit war eine gute Triebfeder für Lernen und Leben.
Schließlich erinnere ich mich dankbar einer Zeit in den Ferien, als ich – schon Theologiestudent- täglich freiwillig ins Pfarrhaus ging, weil ich mich als Mitarbeiter der Kirche nützlich machen wollte. Es war wie ein ,,Volontariat in praktischer Pfarramtsarbeit“. – Richtige Vikare hatte der Großpolder Ortspfarrer immer wieder gehabt und in den vielfältigen Diensten in der großen Gemeinde (mit rund 1.600 Gemeindeglieder) gut ausbilden können. – Ich bekam von dem versierten und interessierten Historiker Wolfgang Rehner auch die Aufgabe, auf der klapprigen Schreibmaschine die series pastorum der Ortspfarrer aus Siebenbürgen zu vervollständigen. Ich lernte ihn damals als lebensfrohen Mann kennen, der seine Lust an subtiler Ironie hatte. Ich wurde zum Mittagstisch eingeladen. Auch diente u. a. die Statistik abnehmender Zahlen der Gemeindeglieder in den Gemeinden der Evangelischen Kirche A. B. in Rumänien seinem Ordnungssinn. Der Druck des Ostens und der Sog des Westens waren in vollem Gange. Für ihn kam allerdings Auswanderung nie in Frage. Auch nach dem Dammbruch 1990 nicht. Nach dem Hermannstädter Stadtpfarramt (1976-1993) hatte er sich für einen Dienst in dem ausgedünnten Nordsiebenbürgen entschieden. Er ging nach Sächsisch-Regen und betreute die dortige Gemeinde samt Umland und die Diasporagemeinden in der Bukowina, weil er es nicht gut fand, dass mit der Aufgabe kirchlichen Dienstes in extremer Diasporasituation vor allem junge Pfarrer, meist Berufsanfänger, betraut wurden. Seine Vorfahren stammten aus jener Gegend.
Der friedlich nach dem Gottesdienst der Jahresschlussvesper am 31. Dezember 2020 zu Hause Heimgegangene hinterlässt gewiss eine schmerzhafte Lücke. Nicht nur im Friedrich Teutsch-Begegnungs- und Kulturzentrum, wo er zuletzt als Bibliothekar und Archivar mit großem Verantwortungsbewusstsein und Akribie zugange war. Eine unverkennbare siebenbürgische Persönlichkeit, ein freundlicher, hingebungsvoller Pfarrer und ein sehr engagierter Träger der Evangelischen Kirche, wie auch der Siebenbürgischen Gemeinschaft ist heimgegangen. Zugleich Ehegatte seiner ihm sehr eng verbundenen Frau Getrud geb. Knall, der Vater von fünf Kindern und Großvater vieler Enkelkinder. Das ewige Licht, das einst den Morgen anbrechen lassen wird, der keinen Abend mehr kennt, das er in seinem kirchlichen Dienst angekündigt hat, leuchte ihm!
Samuel PIRINGER,
evangelischer Pfarrer aus Großpold in Siebenbürgen, jetzt Öhringen, Deutschland