Ungarn- und rumäniendeutscher Literaturabend in Stuttgart
Ausgabe Nr. 2693

Sprechkunststudierende der Staatlichen Hochschule für Musik und darstellende Kunst Stuttgart bestritten die szenische Lesung. Foto: Bernadette DÁN
Es hätte so schön sein können – Dieser Satz hat die lyrische Qualität eines Haiku. Es hätte in der Tat so schön sein können, wäre dem, was sich das Ungarische Kulturinstitut in Stuttgart in Kooperation mit dem Verband ungarndeutscher Autoren und Künstler aus Budapest, mit der Kulturreferentin für Siebenbürgen im Siebenbürgischen Museum in Gundelsheim und mit der Donauschwäbischen Kulturstiftung des Landes Baden-Württemberg am 28. September vorgenommen hatte, Corona nicht im Wege gestanden. Die zweite im Zeichen der Multikulturalität geplante Veranstaltung des Ungarischen Kulturinstitutes in Stuttgart, die gemeinsame Literaturwerkstatt ungarn- und rumäniendeutscher Autorinnen und Autoren, musste wegen der Corona bedingten Aus- bzw. Einreisebestimmungen abgesagt werden.
Die Idee darf aber weiterleben: Die Donauschwäbische Kulturstiftung des Landes Baden-Württemberg hat sich bereit erklärt, im nächsten Jahr zu einer Literaturwerkstatt nach Siebenbürgen einzuladen. Im Hinblick auf den Nachwuchs soll das Vorhaben von einer gemeinsamen Schreibwerkstatt für Schülerinnen und Schüler deutschsprachiger Schulen in der Region begleitet und abgerundet werden.
Eine Literaturwerkstatt bzw. eine literarische Begegnung mit Austauschcharakter ist nichts Außergewöhnliches. Das jedoch etwas Andere an diesem Vorhaben war, dass es um deutschsprachige Literatur ging, die außerhalb deutschsprachigen Raumes beheimatet ist. Als erstes, so Dr. Heinke Fabritius, Kulturreferentin für Siebenbürgen in Gundelsheim, hätte sich der Fokus der Auseinandersetzung auf die Frage gerichtet, warum junge Leute, die in ihrem Alltag mehrheitlich von einem völlig anderen sprachlichen Umfeld umgeben sind, deutsch schreiben? Das Thema bzw. die Frage wird umso interessanter, weil die jungen Autorinnen und Autoren zum Teil nicht zu der in diesen Ländern lebenden deutschen Minderheit gehören, und ihre Muttersprache nicht Deutsch ist.
Die Frage stellt sich auch umgekehrt: Warum verstehen sich junge Autorinnen und Autoren, die aus diesen Gebieten in jungen, sogar sehr jungen Jahren mit ihren Familien ausgewandert sind und den größten Teil ihres Lebens eigentlich im deutschsprachigen Raum, Deutschland oder Österreich, verbracht haben und dort leben, arbeiten und schreiben, immer noch als rumänien- bzw. ungarndeutsche Autoren bzw. Autorinnen? Wieso fühlen sie sich unter Umständen auch thematisch ihrem Geburtsort verbunden?
Die Literatur ist die Kunst der gesprochenen Sprache. Die Worte geschrieben, gelesen, gespielt oder ausgesprochen, richten sich somit vorerst an den Verstand. Sie werden rational wahrgenommen. Kunst lässt sich jedoch generell als Bild (Imago) übermitteln. Das Bild ist die Sprache des Unbewussten. Darin bestehen die Kraft und die Macht der Kunst. Es ist unwesentlich, ob diese Bilder mit Hilfe von Worten, Klängen, Farben, räumlicher oder rhythmischer Darstellungen entstehen und vermittelt werden. Sie werden – auch im Falle der Verlaufskünste – als einheitliche Strukturen, als vollendete, in sich abgeschlossene Vorgänge, als Muster bzw. Bild analog wahrgenommen und übertragen. Dadurch wird ihre jeweilige Botschaft nicht nur verstanden, sondern auch gespürt, gelebt und erlebt, viel mehr, erfahren. Die Fähigkeit, das Medium, in Falle des literarischen Kunstwerkes die gesprochene Sprache, jeder anderen Zweckmäßigkeit zu entfremden und diese durch die absichtlich induzierte, sinnenhafte Erfahrung, dem künstlerischen Erlebnis, zu ersetzen, ist das Prädikat, das das Werk zum Kunstwerk macht.
Das literarische Kunstwerk lässt somit Wörter zu Syntagmen werden, in dem neue semantische Schnittstellen und Wahlverwandtschaften entstehen, zusammenfinden, ineinander rasten. Wie all das, was Kunst ist, bieten sie sich als Narration oder narrative Sequenzen unmittelbar oder in Querverbindungen als verbildlichte Deutungs- und Bedeutungsräume, als deren Bilder zur subjektiven Annahme frei an. Darin besteht die Kunst des Schriftstellers/in, des Dichters/in, des Dramatikers/in. Daran müssen sich auch die literarischen Schöpfungen ungarn- und rumäniendeutscher Literaturschaffender überall und in allen Kulturkreisen „messen“ lassen. Prägt das umliegende, andere bzw. anders gelebte und erlebte sprachliche und kulturelle Medium auch die Art rumänien- bzw. ungarndeutscher Autorinnen und Autoren, sich zu artikulieren ohne dass ihnen der kleine Rahmen regionalen Kontextes zum Stolperstein wird?
Die gesprochene Sprache ist viel mehr als nur zusammenhaltendes Kommunikationsmedium. Die gesprochene Sprache ist vor allem das universale Medium, in dem sich das Verstehen vollzieht. ,,Die Sprache ist die größte Dichtung eines Volkes“ schrieb Lucian Blaga. Sie ist die Urdichtung einer Kultur. Sie trägt die ontologische Erfahrung ihrer Kultur in sich. Das literarische Werk dürfte somit eine bestimmte Form relativer Daseinswahrnehmung als Wahrheit in bzw. mit sich führen. Lässt sich derartiges in den Werken rumänien- bzw. ungarndeutscher Autorinnen und Autoren erkennen?
Es ist schwer und auch nicht Sinn der Sache, verbindliche und allgemein gültige, sogar absolut endgültige Antworten auf diese vier Fragen im multidimensionalen Spannungsfeld der Literatur zu finden. Die Auseinandersetzung ist das Wesen des Lebendigen, das Lebendige bestätigt sich im ständig schöpferischen Werden. Daher wird der Weg zum Ziel oder wie das Blaise Pascal so trefflich formuliert, wichtig ist, „… dass sie nur die Jagd und nicht die Beute suchen.“ Das dürfte der Sinn und Zweck derartiger Literaturwerkstätten sein.
Im Ursprung literarischer Überlieferungen lag die magische Wirkung des ausgesprochenen und auch als Klang empfangenen Wortes. Es liegt in der Natur der Sache, dass die Aussprache, die einfache Betonung oder Modulation, der Tonhöhenverlauf manches anders deuten bzw. andeuten können, das über die Grenzen, die der Verstand gesetzt bekommen hat, hinausgeht und viel tiefer unser Gemüt berührt und erkennen lässt. Literatur ist somit auch das der unmittelbaren Begrifflichkeit freigegebene Wort. Literatur wird geschrieben und grundsätzlich gelesen, unter Umständen gespielt. Wenn aber Nietzsche damit richtig liegt, dass das Wesen eines Phänomens sich in seinen Anfängen offenbart, dann ist Literatur in der Tat auch die Kunst der ausgesprochenen bzw. auszusprechenden Sprache: Das freigegebene Wort sollte gehört werden! Erst durch die Aussprache wird das Werk vollendet, durch die Rezeption kommt es als Kunstwerk zur jeweils subjektiven, künstlerisch ganzheitlichen Vervollkommnung. Die Schwingung ist in ihrer unmittelbaren Offenbarung Physik. Warum die Schwingung zur Kunst wird, das, was die Schwingung zum Kunstwerk bzw. zum Künstlerischen führt, sogar zur Kunst als existentielles Bedürfnis macht, das ist Metaphysik.
Auch wenn die als Ausgangspunkt geplante Literaturwerkstatt nicht stattfinden konnte, haben die Initiatoren und Organisatoren am Abend des 28. September 2020 den Weg gefunden, die literarischen Schöpfungen von Angela Korb, Thomas Perle, Csilla Susi Szabó, Christel Ungar und Stefan Valentin an ausgewählten Texten dem Stuttgarter Publikum in Form einer szenischen Lesung zu vermitteln.
Unter der Leitung von Frau Annegret Müller, Professorin für Sprechkunst und Dekanin der Fakultät für darstellende Künste, haben Sprechkunststudierende der Staatlichen Hochschule für Musik und darstellende Kunst, Stuttgart – Künstlerinnen und Künstler des gesprochenen und ausgesprochenen Wortes – das Geschriebene zum lebendigen Klang gebracht und Literatur auch als Kunst des ausgesprochenen Wortes erleben lassen.
In der Werbung eines Automobilherstellers heißt es, „nichts ist unmöglich“. Die Technik hat ihn nun auch bestätigt und das, was vor Jahren unmöglich gewesen wäre, an diesem Abend möglich gemacht: Die Videobotschaften von Christel Ungar aus Bukarest und Angela Korb aus Budapest. Mit ihrer Anwesenheit und ihren persönlichen Einlagen haben anschließend Thomas Perle und Stefan Valentin dem Ganzen Authentizität verleiht.
Einen Überblick zur ungarn- und rumäniendeutschen Literatur der Gegenwart im Kontext von Tradition, Wandel und Zukunftsfragen lieferten im Anschluss Prof. Dr. András Balogh, tätig an den Universitäten in Budapest und Klausenburg, und Dr. Enikö Dácz, wissenschaftliche Mitarbeiterin und stellvertretende Leiterin im Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas der Ludwig-Maximilians-Universität München. Die ausgestellten Bilder des Ungarndeutschen Ákos Matzon und des Siebenbürger Sachsen Gert Fabritius boten die Kulisse eines besonderen literarischen Events. Mit dem anschließenden Stehempfang, gleichzeitig Anlass zum weiteren Gedankenaustausch, ging die Veranstaltung zu Ende.
Eugen CHRIST