Eine Liebeserklärung an einen Käfer
Ausgabe Nr. 2691
Da auch Erwachsene die ,,Junior-Ecke“ in der Hermannstädter Zeitung lesen, kommen unsere Leserinnen und Leser nun in den Genuss einer schönen Geschichte. In der Nr. 2680 vom 10. Juli d. J. hatte Prof. Heinz Acker, ein gebürtiger Hermannstädter, der seit 1977 in Deutschland lebt, den Beitrag zu den Käfern gelesen und der Hinweis auf den VW-Käfer brachte ihn dazu, der HZ seinen Beitrag ebenfalls zur Verfügung zu stellen, der Ende Juli in der Heidelberger Rhein-Neckar-Zeitung (RNZ)veröffentlicht worden ist. Die RNZ veröffentlicht seit geraumer Zeit in loser Folge sogenannte ,,Käfergeschichten“, in der ehemalige VW-Käfer-Besitzer oder -Fahrer ihre Erinnerungen an dieses Kultauto der 1960- und 1970-er Jahre des vorigen Jahrhunderts niederschreiben. Das hatte Acker bewogen, seine eigenen Erinnerungen an das erste Auto seiner Familie – ein VW-Käfer, den sie Molly tauften – auf Papier zu bringen. Viel Spaß beim Lesen.
„Molly“ gehörte zur Gattung der Käfer, zoologisch „Coleoptera“, die laut Brehms ,,Tierleben“ zu den artenreichsten Ordnungen des Tierreichs zählt. Da gibt es kleine und große, kriechende und flugfähige, nützliche und schädliche, schreckerregende und solche, bei deren Anblick man vor Vergnügen in die Hände klatscht: „Ein Marienkäfer, wie süß!“
Nun bin ich kein Coleopterologe, kein Käferforscher und auch unsere „Molly“ hat mit dem Tierreich nichts zu tun. Oder vielleicht doch? Hatten die Konstrukteure des VW-Werkes die aerodynamischen Fähigkeiten des kleinen Glücksbringers, des Marienkäfers vor Augen, als sie in den 1930-er Jahren des vorigen Jahrhunderts die schnuckelige Form des neuen „Volkswagens“ entwarfen? Oder waren es vielmehr die begeisterten Fahrer, die diesem beliebtesten Wagen aller Zeiten diesen liebevollen Beinamen gaben? Wie auch immer, der „Käfer“ rollte fortan auf allen Straßen sämtlicher Kontinente als unverwechselbares und zuverlässiges, ja unverwüstliches Fahrzeug. Selbst nach Siebenbürgen hatte er es geschafft, trotz „Eisernem Vorhang“, der als Schutz- oder besser Abwehrwall zwischen den beiden Weltsystemen, den Osten vor den teuflischen Segnungen des Westens schützen sollte.
Nun kann man noch so feine Fliegengitter bauen, trotzdem wird eine lästige Stechmücke, oder auch ein putziger Marienkäfer den Weg in dein Schlafzimmer finden. So hatte auch so mancher VW-Käfer auf Schleichwegen, die nicht zu ergründen waren, den Weg ins kommunistische Feindeslager gefunden. Als exotisch eingewanderte Neophyten bereicherten sie das Straßenbild Rumäniens, das eigentlich nur vom tristen Wagensortiment des Ostblocks beherrscht wurde: Skoda und Tatra, Wartburg und Trabant, oder Wolga und Moskwitsch, verpesteten die Luft gleichermaßen und auch manch Vorkriegsmodell eines Opeloder Ford mischte sich in den motorisierten Überlebenskampf.
Als Besitzer eines Käfers gehörte man jedoch einer besonderen Kaste der Autofahrer an. Wir hatten unseren Käfer 1976 durch glückliche Umstände erstanden. Nannten wir ihn „Molly“, weil er so mollig zutraulich wirkte? Vielleicht hatten wir Zutrauen in jenen ungewissen Zeiten nötiger denn je. Als Lehrer des Hermannstädter Musik-Gymnasiums war ich aus dem Schuldienst entlassen worden, weil wir einen Antrag auf Ausreise nach Deutschland gestellt hatten, der allerdings abgeschmettert wurde. Dass man in solch aussichts- und mittellosen Zeiten daran denkt, ein Auto zu kaufen, grenzt an ein Wunder. Aber wie soll bereits Luther gesagt haben: „…und wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich mir dennoch einen Käfer kaufen (oder so ähnlich)…“
Molly hat uns ungeahnte Freiheiten in einem Land der Unfreiheit beschert. Wir haben Rumänien kennen gelernt, das Gott mit so viel Schönheit ausgestattet hat. Allerdings, die Landesgrenzen konnten nicht überschritten werden. Noch nicht einmal einen der sozialistischen Bruderstaaten durfte man problemlos bereisen. Und jede Fahrt brachte neue Probleme mit sich, denn die Fahrtüchtigkeit eines alten Wagens konnte man dortzulande nur mühsam aufrecht erhalten. Ersatzteile waren ja nicht zu finden und nur auf dunklen Schleichwegen aufzutreiben. Zum Glück gab es findige Tüftler, etwa den als „VW-Doktor“ bekannten Herrn Thiess, der als Leiter einer Autowerkstatt jede Rostlaube auf wundersame Weise wieder zum Laufen brachte. An unserer Molly waren die Trittbretter durchgerostet. Er schweißte neue dran und ich besorgte mir – wiederum auf Schmuggelpfaden – von einem deutschen Autofriedhof Gummibeläge, die ich dann kunstvoll aufklebte. Überhaupt war Improvisation angesagt. Ein gerissener Keilriemen wurde einfach durch einen gezwirbelten Damen-Nylonstrumpf ersetzt, Zündkerzen wurden zurecht gehämmert und geschliffen, eine Reifenpanne wurde von Hand unterwegs behoben, indem der Schlauch (den schlauchlosen Reifen gab es noch nicht) fahrradmäßig geflickt wurde. Ja selbst bei einem defekten Scheibenwischer wusste man sich zu helfen: durch die beiden kleinen vorderen Dreiecksfenster, die einen willkommenen Lüftungsausgleich für die mangelhafte Lüftungsanlage bildeten, konnte man zu beiden Seiten eine Schnur durchziehen. Damit konnte der Beifahrer bei Bedarf die Scheibenwischer betätigen.
Bei einer Fahrt zu dem Weltkulturerbe der Birthälmer Kirchenburg, einst Sitz der siebenbürgisch-sächsischen evangelischen Bischöfe, versagten plötzlich die Bremsen. Auf der Schotterstraße hatte ein hochgeschleuderter Stein den Bremsschlauch, der am Boden des Wagens verläuft, durchgeschlagen. Die Bremsflüssigkeit war ausgelaufen und wir rasten bergab direkt auf eine winzige Brücke zu. Die habe ich zum Glück gerade noch gefädelt und konnte den Wagen danach bei der wieder aufsteigenden Wegschleife zum Stehen bringen. Ein gutwilliger Mechaniker der Birthälmer Kollektivwirtschaft hat uns an diesem Sonntagmorgen abgeschleppt und das Bremsröhrchen an der Bruchstelle wieder zugeklopft, so dass wenigstens die Vorderbremsen (oder waren es die Hinterbremsen?) noch funktionierten und wir nachts durch den unheimlichen Geisterwald der Südkarpaten bei strömendem Regen mit halber Bremskraft dennoch nach Hause kamen.
Auch Rühmliches gibt es von unserer Molly zu berichten.
Zunächst ein außergewöhnlicher Geschwindigkeitsrekord. Schnell fahren konnte man in einem Land ohne Autobahnen und mit schlechten Landstraßen eigentlich per se nicht. Aber bei Freck gab es einen Streckenabschnitt, der über mehrere Kilometer schnurgerade verlief, und da wagte ich es einmal, Molly herauszufordern. Der Zeiger des Tachometers stieg und stieg. Mir wurde bei der ungewohnten Geschwindigkeit fast schwindelig und als der Zeiger endlich die 100 erreichte, da erhob sich ein Siegesgebrüll im Auto. Bei der nächsten Rast umkränzten wir Mollys Scheinwerfer mit selbstgebastelten Löwenzahnkränzen. Und noch ein weiterer Rekord ist zu verzeichnen, der das erstaunliche Fassungsvermögen dieses Kleinwagens betrifft. Eine Kugelform hat bekanntlich den größten Rauminhalt. So sind wir mitunter in dem eiförmigen Gefährt mit bis zu sieben oder gar acht Personen unterwegs gewesen. Es ging nicht darum, den Guinness-Rekord, der bei 20 Personen liegt, zu brechen. Es war die Not der Zeit und auch der Spaß am Reisen, die Derartiges bewirkten. Der Spaß hielt sich allerdings in Grenzen, denn Benzin war in dem Erdöl exportierenden Land Rumänien zu jener Zeit Mangelware. Zeitweise durften rationiert nur zehn Liter getankt werden und an den Wochenenden durften im Wechsel nur Autos mit einer geraden oder ungeraden Zulassungsnummer fahren. Touristen aus dem Westen erhielten allerdings Benzingutscheine, und da uns viele Verwandte aus dem Westen besuchten, hatte ich mit deren Gutscheinen in einer Regentonne im Keller eine beträchtliche Benzinreserve angelegt, die unser ganzes Haus gut und gerne in die Luft hätte jagen können.
Nun konnten wir reisen, auch wenn das heckbetriebene Fahrzeug nur wenig Gepäckstauraum für eine fünfköpfige Familie unter der gewölbten Frontschnauze hergab. Bei einem Auffahrunfall wäre wohl das Gepäck, nicht aber der hinten sitzende Motor kaputt gegangen. Der galt ohnehin als „unkaputtbar“, so dass er auch als Antriebsmotor für alles Mögliche – Stromerzeugung, Mühlenantrieb etc. – verwendet wurde.
Schön war unser lindgrüner Glückskäfer, liebenswert schön, weil er „unser“ Käfer war. Nun sind Glück und Schönheit relative Größen und oft eine quantitative Frage. Fliegt dir ein Marienkäfer auf den Finger, findest du ihn süß. Tritt er aber inflationär auf, kann er zur Plage werden. Wir waren mit unserem Käfer in den Urlaub gefahren, zunächst in die Karpaten. Da staunten wir über große rote Flächen zwischen den herrlich blühenden Alpenrosen. Es waren riesige Ansammlungen von Marienkäfern, die wir als staunenswertes Mirakulum der Natur bewunderten. Als wir aber anschließend im Schwarzmeer-Seebad Eforie nicht mehr an den Strand gehen konnten, weil riesige Marienkäferschwärme angriffslustig die ganze Luft durchschwirrten, da war unsere Liebe zu den kleinen Glücksbringern dahin. Auf dem Heimweg besuchten wir noch die fälschlicherweise als „Dracula-Burg“ bekannte „Törzburg“ im transsilvanischen Bran-Pass, wo nicht Marienkäfer sondern die Unmenge von Touristen zur Plage wurden. Es war das Jahr 1976.
Ein Jahr später sollten wir unsere geliebte Molly verkaufen, denn da sollte sich unser jahrelanges Warten auf eine Ausreisegenehmigung erfüllen. Als wir nach einer fürchterlichen Erdbebennacht in Bukarest (4. März 1977) dennoch Rumänien unbeschadet verlassen konnten und uns im Landeanflug Frankfurt näherten, erblickte ich die erste Autobahn meines Lebens. Die vielen bunten Autos wirkten aus der Höhe wie eine belebte Ameisen- oder Käferstraße, womit wir wieder bei den Coleopteren wären. Und wiederum ein Jahr später wurde der Bau des legendären Käfers in Deutschland eingestellt. Fortan kam er als exotischer Zuwanderer aus Mexiko oder Brasilien über den großen Teich in sein Ursprungsland. Aber noch heute schlägt mein Herz höher, wenn ich im Straßenverkehr zwischen all den gleichgeschalteten Automarken dieser Welt das unverwechselbare und so zeitlose Profil eines VW-Käfers erblicke.
Prof. Heinz ACKER