General Bem und die Familie Möferdt

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Aus der Geschichte der Revolution von 1848/49 in Hermannstadt / Von Béla János BÁCS

Ausgabe Nr. 2686

Rückeroberung Hermannstadts am 19. Juli 1849. (Ganz links unten angeblich General Bem). Lithografie aus der Sammlung Dr. J. Bielz. Foto: Reproduktion aus ,,Vom alten Hermannstadt“ von Emil Sigerus, 3. Folge, Hermannstadt 1928

Von einer für die Stellung des Generals Josef Bem, für sein Leben wichtigen Episode hatte der Verfasser der folgenden Ausführungen, Béla János Bács, aus Hermannstädter Familienschriften erfahren. Die ungewöhnliche Begebenheit veranlasste ihn, die damit verbundenen Örtlichkeiten zu besichtigen und sich mit dokumentarischen Quellen zu befassen, die das Revolutionsgeschehen in Hermannstadt und Umgebung darstellen. Veröffentlichungen von Friedrich Teutsch (Band 3 der „Geschichte der Siebenbürger Sachsen“) und Emil Sigerus („Vom alten Hermannstadt“, Folge 3) waren ihm dabei von Nutzen, auch konsultierte er andere Untersuchungen, von Rikhárd Gelich, József Breit, Tobias Weger u. a. Sein Aufsatz über „Väterchen Bem in einer Hermannstädter Gerberwerkstatt“ wurde in zwei Folgen der Zeitung Hargita Népe publiziert (19. und 26. Juni 2020) und ist aus dem Ungarischen von HZ-Redakteur Werner F i n k  übersetzt worden.

 

Hermannstadt gehörte lange Zeit zu den am stärksten befestigten Städten Siebenbürgens, aber mit der Minderung der Türkengefahr verschlechterte sich der Zustand der Befestigungsanlagen. Laut Emil Sigerus waren die Bewohner darum auch besorgt, als sie 1848 mit einem Angriff der revolutionären Truppen rechnen mussten, zumal die Stadt, „trotz allen Lockungen, unerschütterlich kaisertreu“ geblieben war. Obwohl Graf Teleki im Mai 1848 in Hermannstadt die Vereinigung Siebenbürgens mit Ungarn öffentlich ausgerufen hatte, wurde in dieser Ortschaft während einer Zusammenkunft im Theater „die österreichische Volkshymne stehend“ gesungen. Auch die historische Erinnerung der Siebenbürger Sachsen beeinflusste ihre Entscheidung in die gleichsam vorgezeichnete Richtung. Friedrich Teutsch formulierte diesen Sachverhalt folgendermaßen: „Im Volk aber sah man die Zeiten Zápolyas und Ferdinands wiederkehren, und die Erinnerung an die Treue der Väter, die sie dem Haus Habsburg einst bewährten, erleichterte den Enkeln den Entschluss, ein Gleiches zu tun.“

Bem und Hermannstadt

Der aus Polen stammende General Bem kommandierte die ungarischen Truppen, die 1849 in Siebenbürgen gegen Österreicher und Russen kämpften; zweimal kam er nach Hermannstadt, „einmal als Sieger und einmal als Besiegter auf der Flucht“.

General Bem griff Hermannstadt mehrmals an. Der Angriff vom 21. Januar 1849 wurde von den Verteidigern der Stadt zurückgeschlagen. Ein bemerkenswertes Detail des Gefechts wurde von Emil Sigerus festgehalten: Zu den Verteidigern gehörte auch ein Schuster namens Pavolne, der als Artillerist fungierte. Er war polnischer Herkunft, genau wie der Anführer der Angreifer.

Bem hatte sich während des Kampfes nicht geschont, so dass seine Szekler Soldaten ihn baten, vorsichtiger zu sein: „Wo denn bekämen wir ein zweites Väterchen?“

Der nächste Angriff am 11. März 1849 war erfolgreich, ein Teil der Verteidiger und der Bevölkerung verließ die Stadt bereits einen Tag davor und zog in Richtung Roter-Turm-Pass bzw. in Richtung der naheliegenden Gebirge. Die Einnahme der Stadt wurde von den Zuhausegebliebenen als Tragödie erlebt. „Gewiss, es war eine der grauenhaftesten Nächte, die Hermannstadt je erlebte“, ist bei Sigerus zu lesen.

Ein Augenzeuge des Angriffs, Traugott S. Binder, berichtete auch ein humorvolles Ereignis. Der Maurer Andreas Rauh, Mitglied der Nationalgarde, gelangte unter die Angreifer, die „Éljen a magyar!“ (es lebe der Ungar) brüllten. Der arme Andreas, der gar kein Ungarisch konnte und sich nach Hause beeilte, schrie in seiner Verzweiflung und im sonntäglichen Rausch aus Leibeskräften „Elender Magyar!“ Er ist in einer Seitengasse daheim angekommen, wo ihn seine Frau an der Stimme erkannte, ihm entgegenkam und ihm den Mund sofort zuhielt. In der Wohnung nahm sie ihm die Uniform und die Rüstung ab und versteckte diese. Wahrscheinlich verstanden die angreifenden Szekler nicht Deutsch, und so entkam er der Vergeltung, die seine unbeabsichtigt beleidigenden Worte erwarten ließen.

Im Kreise der Siebenbürger Sachsen wurde Bem außerordentlich geehrt, sowohl der Mensch, als auch der Feldherr. Möglicherweise ist das der Grund, dass er auch in unserer anekdotischen Geschichte keine negative Rolle spielt, im Gegenteil. „Er war ein seltener Mann und ist die einzige bei Freund und Feind populäre Persönlichkeit jener Zeit gewesen“, schrieb Teutsch, und er fügte hinzu: „Bems Erscheinen auf dem siebenbürgischen Kriegsschauplatz veränderte sofort die ganze Sachlage.“ Auch Sigerus hatte eine ähnlich günstige Meinung; er zitierte aus einer älteren Quelle: „Wer die imponierende Haltung Bems, seine Tenazität auf dem Schlachtfelde nicht selbst mit angesehen hat, kann sich von der Tüchtigkeit dieses Generals keinen Begriff machen.“

Aus der Zeit nach der Einnahme der Stadt errinnert die sächsische Geschichtsschreibung daran, Bem habe unvergängliche Verdienste, weil keine größeren Verwüstungen geschehen sind: „Ihm verdankte die Stadt ihre Erhaltung“, rühmte Teutsch ihm nach. Und Sigerus bezeugte an mehreren Stellen, Bem habe eine gute Beziehung zu den Bewohnern der Stadt gepflegt: mit dem Bürgermeister, mit dem gewählten Stadtrat, den Redakteuren der Zeitungen und auch mit den einfachen Bürgern. Plünderungen habe er mit Hinrichtung bestraft. Günstig wirkte sich auch aus, dass Bem seine Mitteilungen auf Deutsch herausgab. Seiner Aufforderung zufolge wurde die neue Stadtverwaltung gewählt. Ungeachtet der kriegerischen Zeiten, wurden die Bürger auch auf wissenschaftlichem Gebiet aktiv – die Freunde der Naturwissenschaften gründeten im Mai 1849 den bereits seit langem geplanten „Siebenbürgischen Verein der Naturwissenschaften“.

Das gute Verhältnis war in erster Linie Bem zu verdanken und nicht im Allgemeinen den Anführern der revolutionären Truppen. Als Bem die Stadt anderen Befehlshabern (Oberst Kiss und dem Regierungsbeauftragten Csányi) übergab, begannen die Übergriffe, denen ebenfalls Bem ein Ende setzte nach seiner Rückkehr. „Wenn Csányi nicht mehr Blut vergoss, so dankte das Land es wieder Bem“ (Friedrich Teutsch). Auch ein späterer Regierungskommissar, Mózes Berde, sorgte „in Hermannstadt rechtschaffen für Ordnung und Ruhe“. Ebenfalls Berde war es, der durch eine seiner ersten Verordnungen die Schulen, die „Tempel der Bildung“, eröffnete und dann das Schnapsbrennen aus Feldfrüchten verbot, um dem Lebensmittelmangel vorzubeugen.

Am Rande der Zeit

Auf dem Titelblatt der Publikation, in der die Geschichte der Familien Schiller und Mülder dargestellt wird, ist die Landkarte von Europa zu sehen. Aus den Umrissen des Karpatenbogens erheben sich verschiedene Fahnen in die Höhe, die eine reicht fast bis Berlin, ein Fahnenmast ist halb umgekippt, der mit dem Hakenkreuz ist gebrochen.

Die vorhandenen schriftlichen und mündlichen Quellen über die genannten Familien wurden von Peter Schiller, einem Nachkommen der beiden Familien, zusammengefasst und 2007 in einem Privatdruck herausgegeben („Am Rande der Zeit. Die Familien Schiller & Mülder in bewegten Jahrhunderten“). Auch die Hermannstädter Familie Möferdt gehört in diesen Zusammenhang und wurde von Peter Schiller daher vielfach erwähnt.

Ein Fragment der genealogischen Schrift bezieht sich auf General Bem und stützt sich auf familiengeschichtliche Überlieferungen von Irmgard Ernst, die ebenfalls zur Möferdtschen Verwandtschaft gehörte.

Zunächst einiges zur Information über die Möferdts. Johann Georg Möferdt hatte in seinen knapp fünfzig Lebensjahren zwei Ehen geführt und sechs Kinder hinterlassen, die das Erwachsenenalter erreichten. Von Anna Maria Niedlich, die 1839 im Alter von 27 Jahren laut Todesanzeige „an sehr heftigen Leibschmerzen“ starb, stammten die Söhne Johann, Samuel und Josef. Der Witwer mit den drei unmündigen Kindern heiratete 1840 die 16-jährige Regine (oder Regina) Reschner und hatte mit ihr zwei weitere Söhne, Carl Albert und Gustav, sowie eine Tochter Juli(an)e. Die junge Frau, die wenig älter war als ihre Stiefsöhne, stand mit dreißig Jahren als Witwe da mit wiederum drei kleinen eigenen Kindern.

Regine Möferdt ist eine der Hauptgestalten unserer anekdotischen Geschichte. (Foto)

Regine Möferdt geborene Reschner. Foto: Familienarchiv Dr. Ulrich MÖFERDT

Peter Schiller berichtete: „Regine Möferdt, geborene Reschner, ist meine Ururgroßmutter. Eine Episode aus dem ersten Jahrzehnt ihrer Ehe hat meine Tante Irmgard Ernst 1992 im ´Hermannstädter Heimat-Boten´ veröffentlicht; diese bringt sie in Zusammenhang mit der Revolution in Ungarn 1848/49 – es weht sozusagen der Mantel der Geschichte.

Der Sieger Bem (in einer Schlacht bei Hermannstadt Anfang Juli) quartierte sich im Anwesen der Süssmanns ein, der Urgroßeltern väterlicherseits von Irmgard Ernst. Der Besiegte (Rückeroberung Hermannstadts am 19. Juli) kämpfte mit seinen Soldaten in der Saggasse und musste fliehen.“

Und nun hat Irmgard Ernst das Wort: „Meine Urgroßmutter (= die ihre mütterlicherseits, Regina Möferdt) befand sich im Wohnzimmer, als die Tür aufgerissen wurde und ein uniformierter Mann hereinstürzte, begleitet von einer Gewehrkugel, die das Fußende eines schönen Napoleonsbettes (Empirestil?) durchschlug. Der kleine, hässliche und hinkende Mann (er war bei der Belagerung Wiens durch Windischgrätz im Herbst 1848 verwundet worden) sagte atemlos: ´Madame, bitte verstecken Sie mich, die Österreicher sind hinter mir her.´

Meine Urgroßmutter hatte gerade noch Zeit zu sagen: ´Schnell, in den Hof; hinten ist eine kleine Tür zu der Werkstatt, verstecken Sie sich dort in der Gerberlohe.´ Kaum war er verschwunden, kamen schon seine Verfolger.

Regina Möferdt leugnete, dass jemand hereingelaufen sei. Eine Hausdurchsuchung wurde angeordnet, und ein kaiserlicher Offizier drohte ihr: ´Wenn wir den Flüchtling finden, werden Sie, Madame, mit ihm zusammen erschossen.´

Die Bürgersfrau blieb ruhig und hatte Glück, das Versteck wurde nicht entdeckt. Später ging sie zu dem Flüchtling und brachte ihm Proviant für den Weiterweg.

Er bedankte sich und gab sich als General Bem zu erkennen. Da erst wusste meine Urgroßmutter, wem sie das Leben gerettet hatte.

Sie rettete ihm aber das Leben für nicht einmal ein Vierteljahr.“

Was stimmt an diesem Bericht, was nicht?

Zur Datierung: Der weiter oben angegebene Straßenkampf hat nicht am 19. Juli 1849 stattgefunden (man weiß aus mehreren Quellen: Bem war zu jenem Zeitpunkt im Szeklerland, auch zog damals die ungarische Besatzung friedlich ab), sondern am 5.-6. August 1949.

Die Rückeroberung Hermannstadts war von kurzer Dauer. Nach „mörderischem Kanonenfeuer“ und „mörderischem Kampf“ in den Straßen eroberte Bem am 5. August 1849 die Stadt zurück.

Die durch Irmgard Ernst bzw. Peter Schiller veröffentlichte Episode der Flucht würde einigermaßen in diesen Rahmen hineinpassen, aber laut Teutsch kam es vor der Stadt zur Schlacht vom 6. August. „Zum zweiten Mal war Bem fast das gleiche Kunststück gelungen, vom Feinde unbemerkt nach Hermannstadt zu kommen. Er besetzte die Stadt am 5. August, doch schon am Morgen des 6. stand Lüders mit seinen Russen auf der Höhe von Großscheuern (…). Noch einmal kam es in der Ebene bei Hermannstadt zur Schlacht. Bem stellte einen Teil seiner Streitmacht in der Ebene vor der Stadt auf, einen Teil sandte er zur Verfolgung des Generals Hasford, der sich nach Talmesch zurückgezogen hatte. Als dieser den Kanonendonner hörte, erriet er, dass Lüders heranrücke, und schritt auch zum Angriff, so dass Bem zwischen zwei Feuer geriet und eine vollständige Niederlage erlitt. Alle Kanonen fielen in die Hände Lüders´, Bem entkam nur wie durch ein Wunder der Umzingelung der Ulanen und wandte sich gegen Temeswar, wo er am 8. August ankam, um die letzten Zuckungen der Revolution mitzumachen.“

Denselben Moment kommentierte Sigerus folgendermaßen: „Aber sein holder Stern hatte ihn verlassen, der Kriegsgott schien ihm abgeneigt geworden zu sein. Er war nicht imstande, den forcierten Angriff des General Lüders abzuwehren, und als sein Plan, den linken Flügel der Russen zu umgehen, an der Einsicht des russischen Feldherrn und der Behändigkeit der Kosakenschwärme scheiterte, zog er sich mit seiner geschlagenen Armee gegen Reussmarkt.“

Über die Flucht schreibt József Breit, dass er wie immer einer der letzten beim Rückzug gewesen sei. Es habe wenig gefehlt, dass er gefangen genommen wurde. Diese Einzelheit würde unsere anekdotische Geschichte belegen. Aber genau dort ist auch zu lesen, dass Bem und seine Truppen sich nicht in die Stadt zurückgezogen haben, sondern in Richtung Mühlbach.

Die Darstellung der Schlacht durch Rikhárd Gelich enthält eine Stelle, welche die Vermutung nicht ausschließt, Bem habe in einer Gerberwerkstatt Zuflucht gefunden, wenn auch nicht innerhalb der Stadtmauern, so doch außerhalb. Allerdings wird er in dieser Beschreibung nicht von kaiserlichen, sondern von russischen Truppen verfolgt.

Der hinkende Feldherr: In mehreren Quellen gibt es Hinweise dafür, dass Bem hinkte – die kleine Gestalt mit dem „schleppenden Gang des rechten Fußes, der schwer verwundet worden war“, an seinem alten Honvédmantel waren 8-10 Löcher, die Spuren von Kugeln (Teutsch). Es ist verbürgt, dass er an der Wiener Revolution im Oktober 1848 teilnahm, aber dass ihn Windischgrätz verletzt hätte, darüber berichten die Quellen nichts. Paul Lendvai erwähnt in seinem Werk über die Ungaren den Namen von Windischgrätz, Bems Verwundung allerdings nicht: „Dem polnischen Revolutionsgeneral Bem József ist es noch gelungen zu fliehen…“ Aus einem Brief, der von Bem stammen soll, geht ebenfalls die Flucht aus Wien hervor, aber auch hier gibt es keinen Hinweis auf eine Verwundung. Laut György Németh wurde er „im Oktober 1848 der Befehlshaber der mobilen Wiener Nationalgarde. In dieser Eigenschaft leitete er die Verteidigung. Infolge der Niederschlagung des Aufstandes schlüpfte er als Kutscher verkleidet durch den Belagerungsring“. Einer anderen Darstellung zufolge erlitt er eine Verwundung in der Schlacht von Piski (Simeria Veche/Ópiski). Später wurde er auch in den Kämpfen von Weißkirch/Albești/Fehéregyháza und Temeswar verwundet.

Bems weiteres Schicksal: Irmgard Ernst teilte ihrer Leserschaft mit, Bem habe seine Errettung nicht einmal ein Vierteljahr überlebt. Sie glaubte – ebenso wie Peter Schiller –, Bem habe zu den Generälen der Ungarischen Republik gehört, die in Arad hingerichtet wurden. Eine irrige Annahme, ist doch bekannt, dass Bem sich nicht unter den Märtyrern der Revolution befand. Friedrich Teutsch vermeldete folgendes: „Am 19. August war Bem auf einsamen Gebirgspfaden mit einem kleinen Päckchen, das seine Habseligkeiten enthielt, ohne Geld der türkischen Grenze zugeritten – er ist in der Türkei nach seinem Übertritt zum Muhamedanismus am 10. Dezember 1851 gestorben.“

 

Die Familie Möferdt nach dem Freiheitskampf

Unsere Ausführungen über die Möferdts in späteren friedlicheren Zeiten folgen den von Peter Schiller beschrittenen Pfaden.

Ein fotografisches Kunstwerk aus den 1850-er Jahren: Gruppenbild der Familie Möferdt aus einzelnen Aufnahmen zusammengesetzt. Mittig Regine Möferdt. Ihr zur Seite die Söhne aus der ersten Ehe ihres verstorbenen Gatten – Johann, Samuel und Josef. Links und rechts außen ihre eigenen, leiblichen Kinder Juliane, Gustav und Carl Albert. Foto: Familienarchiv Dr. Ulrich MÖFERDT

Eine Photographie aus den 1850er Jahren zeigt die beherzte junge Frau im Mittelpunkt der ganzen Familie aus den beiden Ehen ihres Mannes, zu Beginn der Witwenschaft. Die ältesten Söhne, Johann und Samuel, haben wohl schon ihren Weg außerhalb des Hauses gesucht, der eine als angehender Beamter, der andere als Stadtphysikus. Der dritte, Josef, wurde 1857 als Firmeninhaber der Rotgerberei in der Saggasse amtlich eingetragen; des weiteren ist verbürgt, dass er mit den in einer Genossenschaft vereinigten Rotgerbern nicht zusammenarbeitete und auch deren Lohmühle außerhalb der Stadt nicht benutzte.

Trotzdem und vielleicht gerade deswegen hatte Josef Möferdt Erfolg, und sein Betrieb überflügelte schließlich die zunftmäßig gebundenen Gerber. Er beschäftigte über zwanzig Arbeiter; 1882 erzeugte er laut Zeitungsanzeige „alle Ledergattungen für Riemer, Schuhmacher, Taschner und Tschismenmacher in vorzüglicher Beschaffenheit“ und führte „ein stets wohlassortiertes Lager von allen in- und ausländischen Ledergattungen“. In jenem Jahrzehnt besaß er eine eigene Lohmühle und konnte sich auch in der Wirtschaftskrise behaupten, die durch den Zollkrieg Österreich-Ungarns mit Rumänien verursacht worden war. Als der Magistrat von Hermannstadt in der „Gründerzeit“ der 1870er Jahre innerhalb und außerhalb der alten Wallanlagen neues Bauland schuf, Straßen anlegte und Grundstücke parzellierte, trat der Unternehmer verschiedentlich als Käufer auf – etwa im Gebiet der Hallerwiese im Südosten der Altstadt, wo u. a. die Schneidmühlgasse (benannt nach einer ehemaligen Sägemühle) entstand.

Josef Möferdt blieb unverehelicht – ebenso zwei seiner Brüder. Gustav lebte nach misslungener Militärkarriere zu Hause und arbeitete im Familienbetrieb mit. Auch Johann kehrte heim, als königlich ungarischer Sektionsrat a. D. (er war, trotz des hochtrabenden Titels, ein untergeordneter Verwaltungsbeamter gewesen). Der ältere Sohn der Regine Möferdt, Carl Albert, betrieb ein Kaffehaus in der Heltauergasse, heiratete gleich zweimal und hat Nachkommen bis auf den heutigen Tag.

Ich aber schließe den Peter-Schillerschen Band, auf dessen Titelblatt die Grundrisse Europas dargestellt sind, und trinke dabei Tee in der Wohnung des Hermannstädter Schriftstellers Joachim Wittstock, auch er ein später Nachkomme der Regine Möferdt. (Er ist übrigens, ungeachtet aller Widersprüche in den dokumentarischen Überlieferungen, durchaus überzeugt von der Authentizität der historischen Begebenheit im Möferdtschen Anwesen.) Vor meinem inneren Auge erscheinen die Hauptgestalten der Episode, die junge Frau, die den zu den Feinden zählenden Flüchtling verbirgt, sowie der sich zwischen der Gerberlohe versteckende Feldherr, und ich denke an die rätselhaften Wege der individuellen und gemeinschaftlichen Erinnerung.

Béla János BÁCS

 

Zum Autor

Béla János Bács (55) hat in Dresden Sozialpädagogik studiert. Er lebt als freiberuflicher Übersetzer in Szeklerburg/Miercurea Ciuc/Csíkszereda, ist gelegentlich Reisebegleiter und allgemein an Kulturvermittlung, auch über Sprachgrenzen hinweg, beteiligt. Vom Hermannstädter Prosaautor Emil Witting (1880-1952) hat er dessen im Szekler Milieu spielenden Roman „Maler der Heimat“ aus dem Manuskript übersetzt (die Herausgabe wird vorbereitet; Fragmente wurden bereits veröffentlicht, in einem Buch, das dem Maler Imre Nagy gewidmet ist, dem Protagonisten des Wittingschen Romans).

 

 

 

 

Veröffentlicht in Aktuelle Ausgabe, Geschichte.