Ein cineastisches Theatererlebnis

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Erste deutsche Premiere der online-Spielzeit am Radu Stanca-Nationaltheater

Ausgabe Nr. 2683

Szenenfoto mit Valentin Späth (links) und Johanna Adam.Foto: TNRS, Dan ȘUȘA

Am vergangenen Freitag, den 24. Juli, feierte das Stück „Live“ Premiere an der deutschen Abteilung des Radu Stanca-Nationaltheaters in Hermannstadt. Seit Anfang des Jahres hatten die acht Schauspieler sowie alle Beteiligten zusammen mit dem Regisseur, Bobi Pricop, und dem Dramatiker, Thomas Perle, an der Inszenierung gearbeitet – nach wenigen Treffen vorerst nur noch in Videokonferenzen, in den letzten drei Wochen dann endlich gemeinsam auf der Bühne. Die Sitzplätze des Theaters blieben allerdings leer, denn wie auch alle anderen Aufführungen der Saison gab es „Live“ nur online zu sehen.

Im Gegensatz zu anderen Stücken wurde dieses aber nicht nur aufgezeichnet und dann ausgestrahlt, sondern an allen drei Spieltagen, vom 24. bis 26. Juli, auch immer live aufgeführt.

 

Vier Kameras sowie ein Handy verfolgten die Schauspieler bei ihrer Darbietung und schafften durch Schnitte und verschiedene Perspektiven ein einzigartiges cineastisches Theatererlebnis. Doch nicht nur die Umsetzung ist allen an dem Stück beteiligten gelungen, allein die wunderbar ausgearbeiteten Geschichten, von denen „Live“ handelt, sind eines Preises würdig; neben dem Leben und dem Entstehen von Wahrheit im Onlinezeitalter bildeten auch Identität und Ausbeutung zentrale Themen des Stückes, deren Darstellungen durch die Einzelschicksale rumänischer Bürger erfahrbar wurden und den Zuschauern eine Gänsehaut bescherten. Der HZ-Praktikant hat sich „Live“ angesehen und hielt es für unabdinglich, zumindest drei der fünf Szenen nachzuerzählen, um allen, die das Stück nicht gesehen haben und es vielleicht auch nie sehen werden, einen Einblick in das komplexe, bewegende Stück zu geben.

Vorhang auf. Kamera ab.

Gemeinsam mit ihrer Tochter Tünde ist Anna, gespielt von Emöke Boldizsár, auf dem Heimweg. Normalerweise stellt die aus Ungarn stammende Anna auf einer Video-Plattform nur ungarische Kochrezepte vor, doch das heutige Erlebnis veranlasst sie dazu, mit ihrem Handy ein Live-Video zu schalten. Bis eben waren sie noch im Skatepark, wo sie öfters zum Spielen hingehen. Ein Junge ging zu Tünde, um sie von den Rampen zu vertreiben: Ein Skatepark wäre nichts für Mädchen. Anna wollte den Jungen gerade maßregeln, als der von seiner Mutter heran zitiert wurde. Dann fing sie an, ihren Sohn zu verprügeln. Anna versuchte einzugreifen, doch die Mutter ließ sich das nicht bieten und schrie, sie könnte mit ihrem Kind machen, was sie will.

Während die bestürzte Anna nun die Geschichte erzählt, erscheinen am rechten Bildschirmrand die Kommentare der Zuschauer. Einige erkundigen sich, ob es den beiden gut gehe. Manche pflichten ihr bei; andere stellen sich auf die Seite der Mutter. Dann kommen auch Kommentare wie: „Du bist so schön.“ Ins Erzählen vertieft scheint Anna sie zu übersehen. Oder aber sie ist es mittlerweile gewohnt, von manchem in der Internet-Gemeinschaft nur noch als Lustobjekt angesehen zu werden. Zuhause angekommen verabschiedet sie sich kurz, da sie im Aufzug keinen Empfang hat. Das Bild friert ein, und plötzlich kommentieren immer mehr Zuschauer wie im Sekundentakt. Dann ist Anna wieder da. Sie starrt minutenlang entsetzt auf den Bildschirm ihres Handys und liest die Kommentare: „Hunnenschlampe“; „Scheiß Ungarn“; „Immigranten raus aus Rumänien“.

Schnitt. Die Bühne im Radu Stanca Nationaltheater ist in rotes Licht gehüllt. Für einen Moment wird es dunkel. Dann beginnt die zweite Szene in weißem Licht.

Ein Mann (Daniel Plier) sitzt in einem Schaukelstuhl vor seinem aufgeklappten Laptop. „Hallo?“ fragt er, „Frau Popa?“ Frau Popa (Fabiola Petri) kommt herbeigeeilt und nimmt vor ihrem eigenen Laptop Platz. Der Mann stellt sich als Mitarbeiter einer Personalvermittlung vor und begrüßt sie im Namen der Agentur und aller potenziellen Arbeitgeber, die live zugeschaltet sind. Am Anfang verläuft das Bewerbungsgespräch noch normal, doch als Frau Popa von ihren Fremdsprachenkenntnissen erzählt und meint, sie spreche Deutsch wie eine zweite Muttersprache, wird der Vermittler hellhörig. Ob sie sich vorstellen könne, auch in Deutschland zu arbeiten, fragt er. Ob sie Vegetarierin sei; ob sie schon mal einer Schlachtung beigewohnt und ob sie Erfahrungen in der Landwirtschaft oder im Pflegebereich habe. Verdutzt interveniert die Bewerberin. Entsprechend ihres Studiums hat sie sich für einen Job im IT-Bereich beworben, nicht als Helferin in einem Schlachthaus oder als Spargelstecherin. Der Personalvermittler versucht sie zu beschwichtigen. Doch plötzlich ändert sich der Ton seiner Stimme. Sie sei doch nun schon seit sechs Monaten arbeitslos und müsse an ihre Zukunft denken. Niemand würde sie einstellen. Und das seien eben die Stellen für Leute aus Rumänien. Frau Popa ist sprachlos.

„OK, Stopp,“ sagt der Mann im Schaukelstuhl. Er entpuppt sich als Frau Popas Psychiater, der das traumatische Bewerbungsgespräch mit ihr bloß nachgestellt hat. Retraumatisierung, also Wiederholung eines traumatischen Erlebnisses, wird das genannt. Der Nervenarzt erkundigt sich nach ihren Gefühlen während der Übung. „Erschöpft. Leer. Wertlos. Er hat mich an mir selbst zweifeln lassen,“ antwortet sie. „Ich glaubte ihm. Alles, alles was er sagte.“ Kurz darauf ist die Sitzung vorüber. „Nächste Woche zur gleichen Zeit?“

Die Bühne wird wieder in Rot getaucht. Der Blick wandert im Kreis um die Kulissen, während die Darsteller und Bühnenbildner für die nächste Szene umbauen. Es wird kurz dunkel. Dann kehrt alles in weißem Licht zurück.

Das Telefon klingelt. Frau Haller (Johanna Adam) hebt ab. Am anderen Ende ist ein junger Mann aus Deutschland (Valentin Späth). Frank Walther, Mitarbeiter des Elisabeth Krankenhauses in Birkenfeld, erklärt ihr auf Englisch, dass ihr Sohn Marius in einen Unfall im Schlachthaus verwickelt gewesen sei. „What?“ fragt die Mutter immer wieder mit zitternder Stimme. „Was?“ Das Telefonat wird unterbrochen. Herr Walther meldet sich plötzlich via Videochat auf Frau Hallers Laptop. Erneut versucht er ihr zu erklären, dass Marius einen Unfall im Schlachthaus hatte. Die verängstigte Mutter beginnt zu verstehen: „Nein. Nein. Nein. Bitte.“ Der Mann aus Birkenfeld bemerkt es und wechselt auf Deutsch. Marius sei stabil, habe eine Rippenfraktur und habe viel Blut verloren. Er sei intubiert und in ein künstliches Koma versetzt worden. Nun müsse schnellstens eine Entscheidung getroffen werden, denn die deutsche Krankenkasse übernehme nicht alle Kosten, und für die weitere Behandlung solle er nach Rumänien transportiert werden. „Sie lügen,“ sagt Frau Haller, „ich habe es in den Nachrichten gesehen. Sie rufen Leute an und stehlen ihr Geld.“ Herr Walther versichert ihr, dass dies nicht der Fall sei. Er hält ein Namensschild in die Kamera, zählt persönliche Daten wie Marius‘ Geburtsdatum auf und betont erneut, dass schnellstmöglich eine Entscheidung getroffen werden müsse. 900 Euro brauche das Krankenhaus, um mit der Behandlung fortzufahren; die Krankenkasse habe bereits 978 Euro übernommen und im Falle eines Krankentransports nach Rumänien würden Frau Haller Kosten in Höhe von 2778 Euro erwarten. Die besorgte Mutter ist überzeugt und fragt, wie sie das Geld am besten schicken sollte. „Wir hatten schon einmal so einen Fall,“ sagt der vertrauenswürdige Herr Walther. „Die Frau hat es über Western Union geregelt. Ich schicke Ihnen meine Daten.“ Er versichert ihr noch einmal, dass es sich nicht um einen Betrug handele. Und Frau Haller willigt ein, ohne zu hinterfragen, warum das Krankenhaus keine einfache Banküberweisung akzeptiert oder sich zu vergewissern, ob Marius tatsächlich im Krankenhaus liegt. Sie hat zu viel Angst um ihren Sohn und vertraut dem jungen Mann, der sich doch so sehr um Marius‘ Wohlergehen zu sorgen scheint.

Tobias LEISER

 

 

 

 

 

 

 

Veröffentlicht in Aktuelle Ausgabe, Theater.