Ein Gespräch mit Johan Galtung, dem Gründer der Friedensforschung
Ausgabe Nr. 2675

Johan Galtung. Foto: en.wikipedia.org
„Eine Welt mit nur einem Staat, der Welt selbst, und nur einer Nation, der Menschheit, zeichnet sich am Horizont ab. Es ist unsere Aufgabe, eine Welt zu entwerfen, in der niemand gleicher ist als der andere.“ Das schrieb 2006 der norwegische Mathematiker, Soziologe und Politologe Johan Galtung (Jahrgang 1930) in seiner Autobiographie. Er gilt als Gründungsvater der Friedens- und Konfliktforschung. Das Institut für Friedensforschung (PRIO), das erste Friedensforschungsinstitut Europas, wurde 1959 von ihm gegründet. 1964 rief er das Journal of Peace Research ins Leben. Im Jahr 1969 wurde Galtung von der norwegischen Regierung zum weltweit ersten Professor für Friedens- und Konfliktforschung ernannt. Er erhielt zahlreiche nationale und internationale Auszeichnungen und Ehrungen, darunter 1987 den alternativen Nobelpreis Right Livelihood Award. Die aus Talmesch stammende Autorin und Journalistin Gabriela Căluțiu Sonnenberg, Mitarbeiterin der Costa Brava Nachrichten in Benissa – Alfas del Pi und der rumänischen Wochenschrift Occidentul Romanesc, hat aus aktuellem Anlass per Telefon ein Interview mit Johan Galtung geführt, das im Folgenden in einer gekürzten Fassung zu lesen ist:
Sie hatten die steigende Bedeutung der asiatischen Staaten im geopolitischen Sinne erkannt und deren baldigen Aufstieg zur führenden Position im weltweiten Geschehen vorhergesagt. Wie es aussieht, passiert dies jetzt, zumindest in wirtschaftlichem Sinne. Wird auch die politische Umwälzung stattfinden? Wenn ja, was bedeutet das für die westliche Welt?
Es gibt ja Asiaten und Asiaten, aber es ist ganz klar, dass zwei sehr große Nationen asiatisch sind: China und Indien. Und China und Indien sind sehr eng verbunden. Wenn sie zusammenarbeiten, dann ist das selbstverständlich eine Großmacht. Das bedeutet nicht unbedingt, dass es schlimm ist. Überhaupt nicht. Asien hat auch, selbstverständlich, ein Recht auf Selbstbestimmung. Wir sind ja im Westen meistens der Meinung, dass alles von uns abhängig ist, dass wir alles entscheiden. Jetzt ist ganz klar geworden: die Asiaten wollen selber entscheiden.
Aber diese Staaten neigen zu einem etwas autoritären Führungsstil. Gibt es eine friedliche Ost-Übernahme, zum Preis einer streng kontrollierten Gesellschaft?
Ein bisschen vielleicht ja. Aber sehen Sie, sie waren auch Gegenstände von unserem Kolonialismus, und der war sehr autoritär. Es könnte sein, dass man mittlerweile Sachen zu bekämpfen hat, die man selber bewirkt hat.
Wird die Europäische Union die Probe der Corona-Krise überstehen?
Sie hat schon sehr viel überstanden. Aber es gibt eine EU und noch eine EU. Es gibt einen inneren Kern, das sind die sechs Gründerstaaten: Benelux, selbstverständlich – damit hat es angefangen – und dann noch Deutschland, Italien, Frankreich, Spanien…
…und auch meine Heimat Rumänien. Das Volk fühlt sich momentan mit der Rolle der Zweiter-Hand-Mitgliedschaft nicht ganz glücklich. Es formiert sich sogar langsam ein bisschen Widerstand. Muss man sich da Sorgen machen?
Es ist ja genau wie Sie sagen: die EU ist eine Treppe und es gibt mehrere Stufen. Ich glaube, es ist wichtig für jeden Staat, die richtige Stufe für sich selbst zu finden. Heute entsteht eine neue Welt, mit neuen Herausforderungen und es gibt neue Kräfte, die diese Herausforderungen annehmen und etwas damit tun. Es könnte auch sein, dass es noch alte Kräfte gibt, die nicht verstehen, was vor sich geht.
Als Gründer der Friedensforschung sehen Sie die Spannungen, die durch Aneinanderreiben der Religionen entstehen, als Grund für vielen Unfrieden. Nun kündigt sich eine neue Glaubensrichtung, die „Klimawandel-Religion“ an…
„Klimareligion“ ist ein neues Wort. Sehr geglückt! Das könnte sein, es könnte sehr wohl so sein! Also, wir alle haben ja diese Klimasache gemeinsam. Es ist ja eine Überlebensfrage. Der Planet ist für uns alle da, wichtig für uns alle. Wir sind ein Teil der Natur, das ist ganz klar, aber wir sind ein sehr wichtiger Teil, und Dinge für uns zu fordern ist auch wichtig. Wir haben Grundbedürfnisse. Es ist unsere Aufgabe, diese nicht nur in Frage zu stellen, nicht nur zu respektieren, sondern auch zu fördern. Ich glaube, wenn man die Bedürfnisse der Menschen und die Bedürfnisse der Natur versteht, und diese als Grundwerte betrachtet, dann wird man die besseren Entscheidungen treffen können.
Das Grundbedürfnis der Menschen ist selbstverständlich das Überleben, verbunden mit, wie soll ich es sagen… „Wellness“ wäre ein passendes Wort dazu. Ein Teil davon ist „Illness“. Also Krankheit mit Wohlsein verbunden.
Genau dasselbe könnte man auch über die Natur sagen: Überleben ist auch ein Grundbedürfnis der Natur. Was wünscht die Natur eigentlich? Ich glaube ungefähr dasselbe was wir uns wünschen.
Was halten Sie von der Digitalisierung der Menschheit?
Sie ist lediglich ein Instrument. Man muss sie besser anwenden. Man kann nicht dafür oder dagegen sein.
Welche Fehler sollte man jetzt vermeiden?
Die Menschheit ist nicht so dumm. Sie findet immer Möglichkeiten. Und sie schafft auch Möglichkeiten. Ich spüre einen gewissen Optimismus, weil ich die Geschichte ein bisschen zu kennen glaube. Was man überlebt und überwunden hat, erscheint einem manchmal fast unglaublich! Diese Fähigkeit besteht.
Bringt uns die Coronakrise Ihrer in Ihrer Autobiographie 2006 formulierten Vision näher?
Ich glaube, wir sind eigentlich nähergekommen, weil die Coronakrise eine Herausforderung für die ganze Menschheit ist. Man könnte sagen, dass sich in den entstandenen „Corona-Kreisen“, wie in einem günstigen Kielwasser, mehr Zusammenarbeit erreichen lässt. Weil wir alle betroffen sind.
Da die Menschen plötzlich in Quarantäne viel Zeit mit sich selbst verbringen konnten, ist auch viel Kunst entstanden. Werden Ethik, Kunst, Geisteswissenschaften, generell gesagt der spirituelle Bereich eine neue Bedeutung gewinnen? Haben wir eine Chance auf eine Renaissance der Sinnlichkeit?
Sehr gut möglich. Man könnte sagen, die Befreiung, wenn man die menschliche Geschichte betrachtet, passiert genau auf diese Weise. Dort, wo es große Herausforderungen gegeben hat, sind auch ganz große Sachen entstanden. Zum Beispiel, eine furchtbare Herausforderung war selbstverständlich die Pest-Epidemie aus den 1340-er Jahren. Hundert Jahre danach hatten wir in Europa die Renaissance.
Renaissance heißt nicht umsonst Wiedergeburt. Es gibt in der Geschichte der Zukunft viel Platz für Wiedergeburt, Wiedergeburt, und Wiedergeburt… Wir haben ohne Zweifel die Fähigkeit dazu.
Wer mich kennt, weiß, dass ich generell einen gewissen Optimismus verbreite. Doch woraus speist sich mein Optimismus? Sagen wir, ich kenne die Geschichte, zumindest ein wenig. Es ist eine Geschichte des Überlebens, trotz alledem, trotzdem und trotz dem.
Danke für das Gespräch.