Stalins Order 7161 vor 75 Jahren

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Marc Schroeders Zeitzeugenporträts einer Deportation

Ausgabe Nr. 2668

Marc Schroeder (links) und Heinke Fabritius bei der Vernissage der Ausstellung in Berlin.                     Foto: Christel WOLLMANN-FIEDLER

Im Rahmen der Ausstellung ,,Order 7161 – Zeitzeugenportraits einer Deportation“ von Marc Schroeder aus Luxemburg in der Galerie des Rumänischen Kulturinstituts in Berlin, fand am 14. Januar 2020 ein literarischer Abend zu diesem schweren politischen Thema statt. Monica Broos, die Schauspielerin, las Textpassagen aus dem gerade in deutscher Übersetzung erschienenen Buch „Diesseits und jenseits des Tunnels 1945“ von Mariana Gorczyca und der Schauspieler Konstantin Bez aus Herta Müllers „Atemschaukel“. Dr. Heinke Fabritius, die Kulturreferentin für Siebenbürgen führte durch den Abend, erinnerte an die 70.000 Deutsche, die vor 75 Jahren in die Sowjetunion deportiert wurden. Die Berliner Fotografin und Autorin Christel Wollmann-Fiedler war dabei und berichtet im Folgenden von ihrer Begegnung mit dem Luxemburger Fotografen Marc Schroeder.

Marc Schroeder, den Luxemburger, traf ich zum ersten Mal 2010 in der Stadtpfarrkirche in Hermannstadt bei der feierlichen Verabschiedung des langjährigen Evangelischen Bischofs Dr. D. Christoph Klein. Marc fotografierte, ich fotografierte, bitterkalt war es in der uralten Kirche aus dem 14. Jahrhundert. Bischof Klein sprach u. a. über den Exodus, der kurz nach 1989 stattfand, Diplomaten und andere wichtige Gäste lobten und verabschiedeten den scheidenden Bischof, der die Protestanten in Siebenbürgen, in Rumänien über viele holprige Wege und durch sehr schwierige politische Zeiten geführt hat.

In die Wärme des Café Wien flüchteten wir beide, Marc und ich. Über Luxemburg und Hermannstadt, die Städte, die im Jahr 2007 gemeinsam Kulturhauptstädte in Europa waren und warum, sprachen wir. Auch sprachen wir über den gemeinsamen Dialekt, den luxemburgischen und den sächsischen und die achthundertjährige Einwanderungsgeschichte der Siebenbürger Sachsen, die hauptsächlich aus der Mosellandschaft in die unwegsame Region der Karpaten  eingewandert waren, die die Landschaft rodeten, ihre Dörfer und Kirchen bauten, sich und ihren Kindern eine neue Heimat schufen. Wir ließen in unserem Gespräch im Café Wien auch die Geschichte der Verschleppung der Deutschen in Rumänien im Jahr 1945 nicht aus. Ins Donezbecken wurden sie deportiert zu Schwerstarbeiten in den Kohlegruben, und anderen unmenschlichen schweren Tätigkeiten. Im tiefsten Winter, im Januar 1945, wurden die Menschen von den Sowjets in Begleitung der Rumänischen Miliz abgeholt und in Viehwaggons tagelang in die Sowjetunion deportiert. Frauen im Alter von 18 bis 30 Jahren, Männer von 17 bis 45 Jahren, Daten, die von Stalin angeordnet waren. Bereits auf dem Weg dorthin starben Menschen vor Kälte und Hunger. Viele kamen sowieso nicht mehr zurück.

Nach unserem Gespräch begann Marc mit Recherchen, sein Interesse an diesen damaligen Deportationen wuchs und bald wurde das Thema zu seinem privaten fotografischen Projekt, das ihn nicht mehr los lies. Bei Überlebenden alten Menschen in Siebenbürgen und im Banat, im Sathmarland, im Banater Bergland, in der Bukowina und vereinzelten Städten, wie Ploieşti, Bukarest und Craiova meldete er sich an, besuchte sie in ihrem Zuhause, begann Gespräche und fotografierte sie bei weiteren Besuchen. Diese Menschen öffneten sich ihm und begannen über das Leben und die Not im Donezbecken zu sprechen. Über dreieinhalb Jahre brauchte Marc Schroeder für dieses fotografische, sehr politische Projekt. Tagungen, Podien und Gesprächsrunden in ganz Rumänien besuchte er in regelmäßigen Abständen.

2013 erhielt sein Projekt die Förderung „Grant for foreign cultural journalists“ vom RKI (Rumänisches Kulturinstitut) Bukarest, um die Recherche zu dem Projekt eineinhalb Monate in Rumänien weiterzuführen. Aus der fotografischen Sammlung ist ein Buch entstanden, das auch die Gespräche der Zeitzeugen zum Inhalt hat. Der niederländische Buchgestalter und Verleger Rob van Hoesel (Verlag Eriskay Connection) hat das Musterbuch zusammen mit dem Fotografen Marc Schroeder entworfen. Auf dem internationalen Fotofestival im südfranzösischen Arles und auch beim UNSEEN Festival in Amsterdam wurde das Musterbuch jeweils für den Dummy (Muster) Buch Preis nominiert. Zehn Vorzeigexemplare des Buches hat Marc Schroeder inzwischen bei einer Druckerei anfertigen lassen. Zum Drucken weiterer Exemplare benötigt ein Verlag, auch der niederländische Verlag, finanzielle Unterstützung.

Auf der Buchmesse in Leipzig im Jahr 2018 zeigte Marc Schroeder eine kleine Auswahl seiner hervorragenden Portraits. Inzwischen war die Ausstellung in der Gedenkstätte für die Opfer des Kommunismus und des Widerstands in Sighetul Marmaţiei, dem Geburtsort von Elie Wiesel zu sehen. Elie Wiesel überlebte Auschwitz, ging in die USA und bekam 1986 den Friedensnobelpreis. In Jassy im Kulturpalast und in der Sakristei der Stadtpfarrkirche in Hermannstadt war die Ausstellung zu sehen.

Im August 2019 arrangierte Frau Dr. Heinke Fabritius eine Ausstellung in Stuttgart, der schwäbischen Metropole, in der Galerie InterArt. Ende Januar 2020 war eine Auswahl zum 75. Gedenkjahr in Reschitza im Banat zu sehen. Doch vorerst sollten die Berliner und die vielen Fremden, die in die Deutsche Kapitale kommen, sich auf den Weg in die Reinhardtstraße in die Galerie des Rumänischen Kulturinstituts machen. Dort war die Präsentation der hervorragenden sehr individuell fotografierten Portraits alter Menschen, die als junge Menschen ein großes Leid erlebt und überlebt haben, zu sehen. Das Thema ist kaum jemandem bekannt, weder im Westen, noch im Osten unseres Landes, doch auch in Rumänien kennt kaum einer diese Vergangenheit. „Die Atemschaukel“ der Nobelpreisträgerin Herta Müller aus dem Jahr 2009 hat dieses Thema zum Inhalt. Der spätere Schriftsteller Oskar Pastior, der letztlich der Protagonist des Buches ist, wurde ebenfalls als junger Mann in diese unwegsame Region der damaligen Sowjetunion zur Schwerstarbeit verschleppt.

Ada Teutsch aus Kronstadt war 17 Jahre alt, als sie deportiert wurde. Als Marc Schroeder bei ihr war erzählte sie ihm:

„Wenn ich denke, wie wir gefroren haben und wie wir gehungert haben und wie wir verunglückt sind in den Schächten dort. Und wie die Leute gestorben sind – manche kriegten Typhus und die hat man an einen anderen Ort gebracht – brachte man sie zurück und begrub sie unter dem Schnee, unter dem Schnee, nicht etwa unter Erde. Der Schnee war so hoch und unter den Schnee haben sie die Toten hingetan und im Frühjahr fraßen sie die Hunde“ A.T.

Eine sehr interessante historische Aufarbeitung ist dem interessierten Luxemburger Fotografen Marc Schroeder mit dieser hochsensiblen Arbeit gelungen.

Mit Marc Schroeder führte ich am 18. Februar 2020 in Berlin zum Ende seiner Ausstellung im Rumänischen Kulturinstitut folgendes Gespräch:

Deine Fotos mit den deportierten Zeitzeugen hängen an den Wänden hier in der Galerie des Rumänischen Kulturinstituts in der Reinhardtstraße in Berlin-Mitte. Die Menschen schauen uns an. Ihr damaliges schweres Schicksal ist in ihren Gesichtern zu erkennen, fast alle, die Du vor Jahren fotografiert hast, leben schon nicht mehr. Alle sind in Ihrer angestammten Heimat geblieben, sind nicht nach Deutschland gegangen. Warum sind diese Menschen mit dieser schweren Vergangenheit im Land ihrer Vorväter geblieben. Hast Du sie dazu gefragt?

Ja, einige sind geblieben, sahen draußen keine Zukunft, andere sind natürlich nach Deutschland gegangen. Als die Grenzen 1989 aufgingen hatten die Menschen kaum eine wirtschaftliche Zukunft in Rumänien, doch die Alten, die damaligen Deportierten, sind geblieben. Für sie war Rumänien ihr Zuhause, ihre Heimat. Die Kinder sind oft weggegangen in den Westen. Ich kann mich erinnern, dass der Vorsitzende Fischer, ein ehemaliger katholischer Pfarrer, sich für die Deportierten eingesetzt hat und mir erzählte: „Wenn ich jetzt nach Deutschland gehe als ehemaliger katholischer Pfarrer, werden die Leute sagen, der ist ja „aus der Kutte gesprungen“. Viel nützlicher fühlt er sich in Rumänien, um sich für die Deportierten einzusetzen.

In welchen Landesteilen, Dörfern und Städten bist Du in den Jahren herumgekommen, vielleicht auf unwegsamen Straßen?

Zu Beginn war ich in Kronstadt bei Ada Teutsch, dann ging ich gleich ins Banat, weil dort der Vorsitzende des Landesvereins der ehemaligen Russlanddeportierten Ignaz Bernhard Fischer wohnt. Ich habe ihn vorhin erwähnt. Von ihm habe ich in Temeswar die Liste mit Namen bekommen. Dann suchte ich mehrere Leute in Temeswar auf, dann ging ich ins Banater Bergland nach Reschitza, 90 km südlich von Temeswar. Eine Person besuchte ich in Arad, 40 km nördlich von Temeswar, dann bin ich ins Sathmarer Schwabenland gefahren, wo ich noch zwei Überlebende fand in einem kleinen Dorf Terem/Tiream, es war früher ein rein deutsches Dorf, dann fuhr ich nach Bildegg/Beltiug, dort wird Ungarisch gesprochen, die meisten Sathmarer Schwaben beherrschten jedoch noch die deutsche Sprache. Nur zu einer Person in Sathmar musste ich einen Übersetzer mitnehmen. Dann habe ich ehemalige Deportierte in der Bukowina, in Suceava, besucht, dort gab es noch fünf Deportierte. Der älteste von ihnen war 1909 geboren. Damals, als ich ihn fotografierte, war er 103 Jahre alt. Dann fuhr ich nach Schäßburg und nach Hermannstadt. Vereinzelte andere besuchte ich in Ploieşti, drei Personen in Bukarest und eine in Craiova. Das waren zwar keine deutschen Siedlungsgebiete, aber die Personen, die ich besuchte, waren deutscher Herkunft.

Du bist ein junger Mensch. Die Menschen, die Du besucht hast, waren bereits alt, hatten die Deportation und die schwere Arbeit lange hinter sich. Wie war Dir bei ihnen zumute, wie war ihnen zumute?

Sie wollten immer wissen, was ich mit dem Material mache, wenn sie einwilligen werden. Ich würde gern ein Buch daraus machen, war meine Antwort. Manche fragten auch, warum ich mich überhaupt noch für das Thema interessiere, das doch über sechzig Jahre zurückliegt. Trotz dieser Fragen, haben sie sich enorm gefreut, dass jemand vorbeikommt und sich für ihr Schicksal interessiert.

Wie hast Du es fertig gebracht aus diesen Menschen nach so vielen Jahren, nun in einem späten Alter von 1945 zu hören und wie oft hast Du diese Menschen besucht, um diese großartigen fotografischen Charakterbilder zustande zu bringen?

Mehrmals habe ich sie besucht, einige zweimal und manche sogar viermal. Mehr als einmal auf jeden Fall. Mir ging es immer darum zuerst den Menschen kennenzulernen und ihr Vertrauen zu gewinnen, damit die Fotos nicht verstellt sind. Bei vielen Leuten brauchte ich keine langen Fragen zu stellen, sie erinnerten sich sehr schnell. Mit einer generellen Frage begann ich: „Wie war das denn damals als ihr deportiert wurdet? Musstet ihr euch melden?“ Weitere Fragen brauchte ich nicht zu stellen, sie antworteten sofort. Es gab andere, da musste ich jede Sekunde weiterfragen, die wollten mir vielleicht gar nicht so viel erzählen. 90% der Leute erzählten sehr viel nach so vielen Jahren. Wenn ich dann präzise Fragen stellte, merkte ich, die Menschen hatten Bedenken oder zögerten. Diese Geschichte hatten sie sicherlich so oft im Kopf wiederholt. Nicht, dass sie anderen darüber erzählt haben, es war eher wie ein Film der ablief. Diesen Film haben sie mir erlaubt mit anzusehen.

Haben diese Menschen je hinterfragt, warum sie zur Schwerstarbeit von den Sowjets geholt wurden? Es gab ja politische Hintergründe.

Sie haben sich natürlich nur in einer Opferrolle gesehen, dazu waren sie auch berechtigt. Sie waren damals alle Zivilisten und waren einfach Opfer dieser Deportation. Die meisten haben aber den historischen Kontext nicht erkannt. Viele haben mir gesagt: „Wir waren ja nur Deutsche, was haben wir mit diesen Deutschen aus Deutschland zu tun. Wir waren Deutsche aus Rumänien, wir waren doch gar keine Deutschen“. Sie haben sich hingestellt als hätte es nie einen Zusammenhang der Deutschen Volksgruppe in Rumänien mit Deutschland gegeben. Als hätte es die Verknüpfung mit Nazideutschland nie gegeben. Obwohl die Volksgruppe damals gleichgeschaltet wurde mit Berlin. Die wenigsten haben das erkannt. Nun weiß ich natürlich nicht, ob das verdrängt wurde, oder ob sie damals als junge Menschen das gar nicht erkannt haben.

Haben Dir einige Zeitzeugen auch von später erzählt von der Zeit, als sie zu Hause wieder Fuß fassen mussten. Es war Nachkriegszeit, den Menschen ging es nicht gut, ein karges Leben führten sie. Dann wurden sie auch noch enteignet…

Viele haben mir erzählt, dass es nach ihrer Rückkehr nicht einfach war, Männer wurden teilweise nochmal drei Jahre zum Militär geholt. Ihnen wurde aber keine Waffe in die Hand gedrückt. Weil sie Deutsche waren, mussten sie beim Militär andere Arbeit leisten, so auch in Minen. Dann wurden die Deutschen 1945 enteignet. Als sie zurückkamen aus der Sowjetunion hatten sie keinen Bauernhof mehr, wenn sie vorher einen hatten. Das Vieh war weg, der Obstgarten war weg, die Felder gab es nicht mehr, manche durften wenigstens noch in der Sommerküche wohnen. Diese Enteignung betraf zuerst die Deutschen und die anderen Großgrundbesitzer, die mehr als 50 ha Land hatten. Diese Enteignung betraf meines Wissens die Deutschen, die Mitglieder der Deutschen Volksgruppe waren, etwas später auch die Rumänen als nationalisiert wurde. Viele litten als Deutsche angeblich unter Diskriminierung, sie bekamen keine Arbeitsstellen, sie wurden als Hitleristen hingestellt von den Rumänen. Inwiefern das der Realität entspricht, weiß ich nicht. Viele wurden damals quasi verfolgt vom politischen System. Außerdem hatte sich Antonescu eine Zeit mit Hitler verbündet, das soll man nicht vergessen. Das Land war ja faschistisch bis 1944 und kämpfte auf der Seite von Deutschland. Ja, ich habe öfters zu hören bekommen, dass es nach ihrer Rückkehr aus der Sowjetunion eine Diskriminierung gab. Zugleich glaube ich, dass damals sehr viele Menschen in Rumänien, auch Ungarn und Rumänen selbst verfolgt wurden und sich in einer Opferrolle sahen, oder als Opfer fühlten.

Herzlichen Dank für das Gespräch.

Anmerkung der Autorin: Auf dem Tischchen in der Galerie des Rumänischen Kulturinstituts in Berlin – Mitte liegen zwei Bücher nebeneinander. Ich sehe die „Atemschaukel“ von Herta Müller und „Diesseits und jenseits des Tunnels 1945“ von Mariana Gorczyca. Zwei Bücher, mit ähnlicher Zeitgeschichte, die Zeit 1945, die Zeit, die Marc Schroeder beschrieben hat. Herta Müller ist jeder und jedem bekannt, für ihre literarische Arbeit bekam sie 2009 den Nobelpreis für Literatur in Stockholm überreicht. Als Rumäniendeutsche übersiedelte sie 1987 von Rumänien in die Bundesrepublik Deutschland, 1953 wurde sie in einem kleinen Ort im Banat geboren.

Mariana Gorczyca ist Rumänin, wurde 1956 im Südosten von Rumänien in der Nähe von Brăila geboren, ist Dr. der Philologie, Professorin und Prosaschriftstellerin und lebt in Sighişoara/Schäßburg in Siebenbürgen. Mitorganisatorin ist die Schriftstellerin beim alljährlich in Schäßburg stattfindenden Festival „Proetnica“. Beatrice Ungar, die Chefredakteurin der Hermannstädter Zeitung hat das Buch von Gorczyca ins Deutsche wie immer hervorragend übersetzt.

 

 

 

 

 

 

Veröffentlicht in Aktuelle Ausgabe, Kunst.