Fiktives Interview mit einem Coronavirus, der Opern liebt / Von Peter BIRO
Ausgabe Nr. 2668
An der Türklinke zum Parkhaus unter der Oper traf ich unverhofft Virginia Kronberger, einen weiblichen Coronavirus, der gerade dabei war, einen Hinterhalt für einen ungeschützten Opernbesucher anzulegen. Zum Glück trug ich vorsichtigerweise Handschuhe während ich den Türgriff hinunterdrückte. Dann merkte ich, wie die kleine Virusdame auf meinen rechten Daumen hüpfte. Zuerst schaute sie etwas indigniert auf die undurchdringliche Hülle um meine Finger, dann richtete sie den Blick auf mich und fragte vorwurfsvoll: ,,Na, willst Du Dich bald an die Nase fassen, Du Feigling? Juckt’s Dich etwa nicht?“
,,Komm mir nicht mit so etwas“, erwiderte ich etwas belustigt. ,,Ich weiß, was Du willst. Jetzt sei nicht enttäuscht und bewahre Haltung, auch wenn ich mich von Dir nicht infizieren lasse.“
,,Dann schmier’ mich wenigsten wieder zurück auf die Klinke“, sagte sie vorwurfsvoll, ,,du weißt ja, dass ich mich alleine nicht fortbewegen kann, außer in herzhaft ausgeniester Spucke.“
Ich willigte ein unter einer Bedingung: ,,Wenn Du Dich bei einer Tasse Latte machiato von mir interviewen lässt, dann setze ich Dich wieder bei der Oper ab.“
,,Abgemacht. Aber nur für zehn Minuten, sonst gehe ich hier noch ein auf diesem ungastlichen Kautschuk. Lass uns loslegen!“
An einem etwas abgelegenen Tisch des Operncafés sitzend, begann ich das Gespräch mit dem Winzling auf meinem Daumen, den ich mir in gebührendem Abstand vors Gesicht hielt, um die Konversation möglichst unauffällig führen zu können. Tasse, Würfelzucker und Kaffeelöffel bediente ich mit der Linken; die Erdnussschale schob ich angewidert weiter weg. Jedes Mal, wenn der Kellner bei mir aufkreuzte und sinnloserweise nachfragte, ob alles in Ordnung wäre, hielt ich kurz inne, um nicht für bekloppt oder kauzig gehalten zu werden. Dann beeilte ich mich, meine Neugier zu befriedigen und führte das folgende, improvisierte Gespräch.
Wenn ich mich vorstellen darf, mein Name ist Hase, Jeremias Gotthelf Hase, freier Wissenschaftsjournalist und begeisterter Schleimpilzsammler. Ich betreue die monatliche ,,Aufrichtige Geständnisse“-Kolumne in ,,Natur und Lebenskunst“, ein bunt illustriertes Hochglanzmagazin für gehobene Leserkreise aus dem wohlsituierten, grünliberalen Ökomilieu. Zum Beispiel Gymnasiallehrer und so. Dorthin kommt unsere Unterhaltung rein, mit Ihrer freundlichen Erlaubnis natürlich.
Einverstanden. Aber nennen Sie mich nicht beim Namen. Von mir aus können Sie meine Initialen verwenden. Ich möchte mich unter meinesgleichen nicht als Whistleblower outen.
So machen wir’s, Frau K., versprochen. Zunächst mal, wie kommen Sie auf die Klinke der Parkhaustür?
Die Kurzversion ist, dass mich neulich ein Opernenthusiast auf den Türgriff gehustet hat. Es geschah, nachdem ich meine Familie in dessen etwas angegriffenen Lunge zurückgelassen und mich in seinem spuckfertig schäumenden Sputum abmarschfertig eingefunden hatte. Von dort nahm ich den erstbesten Kurzstreckenflug in einem Mikrotropfen. Geradewegs hierher.
Und die lange Version? Ich habe Zeit.
Ok, dann muss ich ein wenig ausholen. Unsere Karriere als zertifizierte Pandemisten hat ganz weit weg von hier begonnen. Genauer in Xin Zhou, einem Vorort von Wuhan in Zentralchina. Meine ehrenwerten Vorfahren – ich spreche von zwölfhundert zurückliegenden Generationen – bevölkerten eine Sippe von Fledermäusen in der nahegelegenen Huang Shan-Höhle, wo wir auf hohem Fuß und in einträchtiger Balance mit unseren gastfreundlichen Wirtstieren lebten. Das war seit ewigen Zeiten so, ich weiß gar nicht wie lange schon. Mal gab es mehr Fledermäuse, mal weniger, auf jeden Fall ging es uns allen recht gut. Die putzigen Flattertiere durchlitten wegen uns schlimmstenfalls einige Nächte fieberhaftes Rumhängen von der Höhlendecke, und wir Viren gediehen prächtig in der ganzen Kolonie.
Und dann? Dann muss was Einschneidendes passiert sein. Oder?
Ja genau. Alles war in Ordnung bis September letzten Jahres, als der Chefkoch des vornehmen Fang Wau Wau-Restaurants ein sorgfältig mariniertes Entrecote mit viel zu viel Cayennepfeffer versaute. Unter Zeitdruck stehend – die Feinschmecker warteten bereits ungeduldig auf den Hauptgang – ließ er vom nahegelegenen Spezialitätenmetzger eine Ladung ,,Kleintier-Fleisch gleich welcher Art, Hauptsache schnell!“ kommen. Im hopphopp zusammengerafften Frischfleischpaket befand sich auch eine gehäutete Fledermaus. Und ausgerechnet darin verbrachten meine nichtsahnenden Altvorderen ihre wohlverdienten Herbstferien: darunter auch mein verehrter Ur-ur-ur… eigentlich 35facher Ur-Großpapa Cornel und meine gleichermaßen urige Großmama Cornelia Kronberger, geborene Influenza von Fiberzack.
Ist nicht wahr! Das kann doch gar nicht sein.
Doch, doch! Großes Virusehrenwort. Meine Altvorderen konnten sich gerade rechtzeitig durch einen kühnen Sprung in einem winzigen Fledermaus-Blutstropfen retten, kurz bevor sie im heißen Wok mit dem gefährlich zischenden Palmöl gelandet wären. Sie fanden Unterschlupf in einem Augenwinkel der ziemlich ungeschickt agierenden Hilfsköchin, wo sie sich schleunigst den ungewohnten Bedingungen anpassen mussten, um zu überleben.
Bemerkenswert. Und was dann?
Ja, wegen den nicht ganz optimalen Bedingungen in der Tränenflüssigkeit der Hilfsköchin, mutierten Sie zu einem Vorläufer des Coronavirus 19. Was blieb ihnen auch sonst übrig? Wir wären viel lieber bei den Fledermäusen geblieben, aber so geht nun mal gemäß Herr Darwin die Evolution: anpassen oder aussterben! Während der ersten Stunde veränderten sich die nächsten zehn Kronberger-Generationen dann fortlaufend. So konnten sie sich allmählich auf die menschlichen Abwehrkräfte einstellen.
Und die Hilfsköchin ist dann schwer krank geworden?
Ach wo! Die junge Dame hatte nahezu keine Beschwerden, ein wenig Husten vielleicht. Und leichte Gliederschmerzen, vor allem in ihrem Schienbein. Aber sie verteilte die Nachkommen der Kronbergers an alle ihre Kollegen und über das Tischbesteck auch an einige Gäste. Das ging dann ruck zuck weiter so, bis die ganze Stadt von einer richtigen Epidemie erfasst wurde. Den Rest kennen Sie sicher aus den Medien.
Und wie sind Sie hierhergekommen? Ins Parkhaus unter dem Opernhaus?
Ganz einfach. Meine im Außendienst vielbeschäftigten Ahnen reisten in der Businessclass von Shanghai nach Mailand. Sie saßen dabei auf dem Ärmel eines italienischen Geschäftsreisenden in Sachen Bambussocken, der sich regelmäßig seine Nase daran abwischte. Im gastfreundlichen Europa angekommen, unternahm meine Familie improvisierte Besichtigungstouren zu nahezu allen Sehenswürdigkeiten und verbreitete sich dabei auf exponentielle Weise. Mich hat mein Wirtsmensch gleich nach meiner Geburt vor einer Viertelstunde direkt auf die Türklinke des Opernhauses gehustet. Ich war froh, aus ihm herauszukommen, denn er hatte bereits Anzeichen einer beginnenden Lungenentzündung. Als älterer Herr hätte er uns alle in den Tod mitreißen können. Leider musste ich fast zwanzig Millionen meiner Geschwister zurücklassen. Und jetzt mache ich mir große Sorgen um sie. Familie geht vor, verstehen Sie?
Ja sicher, aber warum müsst Ihr Coronaviren auch gleich tödlich werden? Das ist doch auch für Euch kontraproduktiv.
Das stimmt schon. Diese bedauerlichen Todesfälle sind gewissermassen ,,Betriebsunfälle“. Sie kommen vor, wenn unsereiner zu heftig zuschlägt und damit den Wirt und nachher sich selber umbringt. Aber so funktioniert nun mal Evolution: die rabiaten Übertreiber werden mit der Zeit ausselektiert und verträglichere Nachkommen bleiben übrig. Das sind die, die sich mit den Wirten irgendwie arrangieren können. Das nennt man dann ,,endemisch werden“. Das ist es, was ich mir für meine Nachkommen wünsche: endemisch werden im Musikgeschäft.
Ich bin beeindruckt über Ihre Einsichtigkeit. Was haben Sie nun als nächstes vor?
Als Liebhaberin italienischer Opern, Sie wissen schon, Verdi, Donizetti und so, da möchte ich gerne in diesem Umfeld bleiben. Am liebsten würde ich ein Orchestermitglied, zum Beispiel einen Blechbläser befallen. Oder die Souffleuse. In ihnen würde ich viele schöne Stunden leicht fiebrigen Musikgenusses durchleben. Und natürlich möchte ich in den nächsten Minuten eine Familie gründen. Gibt es schöneres als während der ,,Una furtiva lagrima“ inmitten den zehntausend sich fröhlich replizierenden Kindern zuzusehen, wie sie sich im Zytoplasma einer Lungenzelle tummeln?
Wohl kaum, das muss ich zugeben.
Dann bringen Sie mich jetzt bitte zurück zur Oper.
Gerne. Ich setze Sie auf dem Geländer zum Haupteingang ab. Und danke für das interessante Gespräch.
War mir ein Vergnügen. Adieu! Lang lebe die Evolution!
Peter Biro, geboren 1956 in Großwardein/Rumänien, ist Professor für Anästhesiologie und Freizeitliterat. 1970 emigrierte er nach Deutschland. Schule und Studium der Humanmedizin absolvierte der Autor in Frankfurt am Main. Seit 1987 ist er Anästhesiearzt und Professor am Universitätsspital Zürich. Peter Biro schreibt seit einigen Jahren kulturhistorische Essays, Satiren und humoristische Kurzgeschichten für Online-Magazine.