Heimat – Identität – Glaube

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 Ein wichtiger Beitrag zur Zeitgeschichte / Von Hermann PITTERS

Ausgabe Nr. 2669

Am 8. Juli 2019 wurde Hartmut Koschyk mit der Goldenen Ehrennadel des Demokratischen Forums der Deutschen in Rumänien geehrt. Die Laudatio hielt der DFDR-Abgeordnete Ovidiu Ganț. Unser Bild: Hartmut Koschyk (links) präsentiert das Diplom, die Auszeichnung überreichte der DFDR-Vorsitzende Dr. Paul-Jürgen Porr (rechts).                           Foto: Fred NUSS

In der Zeit zunehmender Globalisierung scheinen die Begriffe „Heimat“, „Identität“, „Glaube“ wenig, vielleicht gar keine Bedeutung zu haben. Immer mehr Menschen  werden entwurzelt, finden ihren Arbeits- und Lebensplatz irgendwo, weit weg von ihrem ursprünglichen Zuhause und tauchen in ein ganz anderes sprachlich-kulturelles Umfeld ein, in dem ihre Identität mehr und mehr verwischt und ihre Glaubens- uns Werteüberzeugungen relativiert und als unwichtig angesehen werden. Da erscheint eine Buchveröffentlichung unter dem Titel „Heimat, Identität, Glaube“ als wenig zeitgemäß, ja, vielleicht als rückgewandt und überholt.

Jede Heimattümelei, jedes Pochen auf eigene sprachlich-ethnische Eigenart und gar Überzeugungen religiöser Art erscheint in der gegenwärtigen Epoche weltweiter Nivellierungen als unangemessen und völlig deplaciert. Und doch hat ein angesehener Politiker, Hartmut Koschyk, langjähriges Mitglied des Deutschen Bundestages und gegen Ende seines Mandates Beauftragter der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten, ein hochinteressantes, wichtiges Buch gerade mit dieser dreifachen Überschrift  herausgegeben und darin nachgewiesen, dass diese Begriffe und noch viel mehr die damit gemeinten Wirklichkeiten auch in einer globalisierten und säkularisierten Welt ihre Bedeutung haben und weiterhin behalten. Er wagt es, auch gegen den Strom des Zeitgeistes zu schwimmen und auf Grund seiner großen politischen Erfahrung jene Werte herauszustellen, die trotz allen gesellschaftlichen Wandels ihre zentrale Bedeutung behalten. Das wird für den Leser schon bei zur Kenntnisnahme des Untertitels des Buches deutlich, welcher lautet: „Vertriebene, Aussiedler, Minderheiten im Spannungsfeld von Zeitgeschichte und Politik.“

Hartmut Koschyk: Heimat – Identität – Glaube.   Vertriebene, Aussiedler, Minderheiten im Spannungsfeld von Zeitgeschichte und Politik,  EOS-Verlag (Editions Sankt Ottilien), 2018,   464 Seiten, ISBN  978-3-8306-7881-6

Bereits in seinem Vorwort unterstreicht der Verfasser, selbst ein Sohn Vertriebener aus Oberschlesien, dass ihm schon früh bewusst wurde, „wie einschneidend der Verlust der angestammten Heimat für Menschen ist, wie stark dieses Trauma  die eigene Identität beeinflusst und wie aus der Zuversicht des Glaubens die Kraft erwächst, sich an einem neuen Ort wieder eine Existenz aufzubauen.“(S. 7) Er erklärt, in diesem Buch zu versuchen, „zeitgeschichtliche Zusammenhänge, politische Entwicklungen, aber auch ganz persönliche Überzeugungen und Sichtweisen miteinander zu verbinden.“ (S. 8)

Im einleitenden Kapitel spürt man, dass der Autor neben Politikwissenschaft auch Geschichte studiert hat. Er stellt das Phänomen „Vertreibung“ in einem weiten historischen Kontext dar, der ins 19. Jahrhundert, besonders in den Niedergang des Osmanischen Reiches im russisch-türkischen Krieg (1876-1878) und in die beiden Balkankriege (1912, 1913-1914) zurückreicht. Dieses Geschehen führte zu bis dahin unvorstellbaren Vertreibungen und zu „bilateral sanktionierten Bevölkerungsverschiebungen“, denen hundertausende Menschen  (Bulgaren, Griechen, Türken) zum Opfer fielen. Das war eine Tragödie, die ihren Höhepunkt zu Beginn des Ersten Weltkrieges im Völkermord an anderthalb Millionen von Armeniern finden sollte. Dass das Unrecht von Vertreibung der  Zivilbevölkerung im Blick auf die Schaffung national homogener Staaten sogar international anerkannt und völkerrechtlich festgeschrieben werden konnte, wie im Vertrag von Lausanne vom 24. Juli 1923 (zwischen der Türkei, Großbritannien, Frankreich, Italien, Japan, Griechenland, Rumänien und Serbien),  und Millionen von Menschen betraf, ist aus heutiger Sicht nur schwer zu begreifen. Das hat aber zur Folge gehabt, dass Jahrzehnte später das nationalsozialistische Deutschland in den von ihm eroberten Territorien ebenfalls in die Millionenzahl reichende Vertreibungen vornahm.  Und es hatte sogar größere „völkische Säuberungen“ vor, nachdem es seine jüdische Minderheit und jene der von ihm besetzten Gebiete millionenfach ermordet hatte.

Dieses lawinenartig zunehmende Unrecht fand dann seinerseits seinen konsequenten Abschluss  in der leidvollen Vertreibung von über 14 Millionen Deutschen aus den abgetrennten deutschen Gebieten und aus den unter die Sowjetmacht gelangten Ländern  (Polen, Tschechoslowakei, Ungarn, Jugoslawien). Dieser Vertreibung war im letzten Kriegsjahr  im Gefolge des Rückzuges der deutschen Armee auch eine ebenfalls in viele Millionen gehende Flucht der Zivilbevölkerung vorausgegangen, die nach versuchter Rückkehr in die Heimat dort nicht mehr aufgenommen  wurde. Dieses unerhört dramatische politische Geschehen wird im ersten Kapitel des Buches detailliert und objektiv  geschildert.

Das gilt auch für die beiden folgenden Kapitel, in denen mit gleicher Akribie und großer Sachkenntnis das Problem der Eingliederung der Heimatvertriebenen in den vier Besatzungszonen des Nachkriegs-Deutschland und später in der Bundesrepublik dargestellt wird. So mussten in der Sowjetischen Besatzungszone 3,9 Millionen Zuwanderer untergebracht  und versorgt werden, die fast ein Viertel der Bevölkerung ausmachten. Aus ideologischen Gründen durfte man sie nicht als „Vertriebene“ bezeichnen, sie wurden „Umgesiedelte“ genannt. Sie durften sich, obwohl den eingesessenen Bürgern rechtlich gleichgestellt, nicht landsmannschaftlich organisieren. Das Thema „Vertreibung“ war politisch mit Rücksicht auf die Vertreiberstaaten tabu.

In den westlichen Besatzungszonen und in der 1949 gegründeten Bundesrepublik erfolgte die Eingliederung der Neuankömmlinge  zunächst  „auf Vorbehalt“, da mit einer vielleicht doch noch möglichen Rückkehr gerechnet wurde. Sie organisierten sich landsmannschaftlich und gründeten 1952 einen gemeinsamen Verband. Die Geschichte der Aussiedleraufnahme verlief dann in den folgenden Jahren und Jahrzehnten, gemäß den innenpolitischen Entwicklungen und den Weichenstellungen der deutschen und europäischen Ostpolitik, in mehreren Phasen und mit einer ganzen Reihe gesetzlichen Regelungen, die im Buch minutiös erfasst und erörtert werden. Ausführlich wird auch über das Schicksal deutscher Bevölkerungsgruppen in den osteuropäischen Staaten unter kommunistischer Herrschaft berichtet, die, nur weil sie deutschstämmig waren, bedrängt wurden und deren Glieder infolge dessen nach Deutschland ausgesiedelt werden wollten.

Die Frage der Spätaussiedler stellte sich von Land zu Land verschieden und bedurfte genauer gesetzlicher Regelungen, die im Buch erörtert werden. Es ist erstaunlich und bewundernswert, wie genau der Autor z. B. über die Lage in Rumänien – aber auch in Ungarn und Polen – informiert ist. Es ergibt sich ein weitgespanntes politisches und gesellschaftliches Zeitbild betreffend Flucht, Vertreibung und Heimatverlust, an dem künftige Historiker, die diese Phänomene erforschen, wegen der Reichhaltigkeit der hier gesammelten Informationen nicht vorübergehen können.

Dabei ist es wichtig, dass dieses Thema, gerade auch weil es emotionale Komponenten und Fragen ethnischer und nationaler Natur aufwirft, in sachlich-objektiver Weise, unverkrampft und in verstehendem und versöhnendem Geist behandelt wird. So wird dieser existentiell wichtige Gegenstand so bedacht und besprochen, dass er in die gesellschaftliche Mitte rückt und weder dem extrem linken noch dem extrem rechten politischen Spektrum überlassen bleibt. Es geht um einen Neuanfang, eine Neubetrachtung des Vertriebenenschicksals in Politik, Wissenschaft und Gesellschaft im europäischen Geist, wofür man bei der Lektüre dieses Buches nur dankbar sein kann.

Die im Juni 2008 im Deutschen Bundestag erfolgte Gründung der „Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ und das 2013 beschlossene dazugehörige „Dokumentations- und Informationszentrum“ atmen ebenfalls diesen Geist. Dabei können gerade die Heimatvertriebenen gemeinsam mit den in der angestammten Heimat verbliebenen Menschen eine Brückenfunktion zwischen Ländern, Völkern und Kulturen ausüben und einen Beitrag zur europäischen Einigung leisten.

Das vierte und umfangreichste Kapitel ist einerseits den völkisch-sprachlichen Minderheiten gewidmet, die autochthon in Deutschland leben (neben den Dänen und Friesen in Schleswig und den Sorben in der Lausitz geht es um die Juden und die Sinti/Roma). Andererseits und sehr ausführlich wendet es sich den deutschsprachigen Minderheiten in den osteuropäischen Ländern und in den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion zu. Mit erstaunlicher Genauigkeit wird deren Geschichte und vor allem ihre gegenwärtige sehr differenzierte rechtliche und kulturelle Lage dargestellt.

Der Schwerpunkt liegt dabei darauf, dass Minderheiten für ihr Umfeld eine Bereicherung bedeuten und eine verbindende Funktion ausüben. Ausführlich wird über die vielseitigen Bemühungen des deutschen Staates berichtet, die deutschen Minderheiten kulturell und wirtschaftlich zu fördern. Das geschieht ganz im Sinne der europäischen und internationalen Konzepte des Minderheitenschutzes, denen sich der Autor als Beauftragter der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten verpflichtet fühlt.

Den Ausklang des Buches bilden Überlegungen zur religiösen Dimension der Vertriebenen- und Minderheitenfrage. Dem Verfasser ist aus eigenen Erfahrungen seiner Familie, aber auch auf Grund seiner vielen Kontakte mit Betroffenen bewusst, welch große Bedeutung der Glaube für die Bewältigung existenzieller Lebensfragen hat. Er betont, „dass die auf universaler Geltung angelegten Prinzipien Europas wie Menschenrechte, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und soziale Gerechtigkeit… Kinder des Europäischen Geistes sind, der zutiefst vom christlichen Erbe geprägt ist“. Und dieses Erbe ist „eine lebendige Quelle, die Hoffnung, Motivation und Ethos der Menschen nährt“ (S. 398 f). Zur Lösung der mit den Vertriebenen- und Minderheitenfrage verbundenen Probleme haben neben den politischen auch kirchliche Institutionen beigetragen. Sowohl von katholischer als auch von protestantischer Seite gab es dazu wichtige und hilfreiche Stellungnahmen. Der Verfasser verweist auf mehrere päpstliche Rundschreiben und auf die Bemühungen der polnischen und deutschen Bischofskonferenzen  um Verständigung und Versöhnung, ebenso auf die Ostdenkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland und auf andere kirchliche Dokumente im Blick auf Verständigung und Aussöhnung.

In Diakonie und Seelsorge leisteten und leisten die Kirchen einen wesentlichen Dienst zur Notbewältigung, zur Ermutigung derer, die Hilfe brauchen. Die Verantwortung für andere wird im Glauben freigesetzt und trägt zum Aufbau gesunder und geregelter Lebensverhältnisse und mitmenschlicher Bezüge bei. Auch in diesem letzten Kapitel des Buches wird eine Fülle von Informationen und konkreten Beispielen aufgerollt, die diese religiös-wertebezogene Seite der hier behandelten Fragen beleuchten und veranschaulichen.

Betrachtet man diese Buchveröffentlichung aus rumäniendeutscher Perspektive, so muss zum Einen die höchste Anerkennung in Bezug auf den Reichtum an Detailwissen und auf die Fülle des Stoffes ausgesprochen werden. Ein wichtiger Abschnitt europäischer Geschichte, die dramatisch-tragischen Ereignisse des 20. Jahrhunderts mit ihren abgründigen, leidvollen Tiefen werden dargestellt, verbunden mit dem festen Willen, solch millionenfaches Unrecht hinfort nie mehr zuzulassen. Zum Andern ist dem Verfasser ein besonderer Dank dafür auszusprechen, dass er gerade auch Rumänien und die deutsche Minderheit unseres Landes mit besonderer Sorgfalt und mit großem Einfühlungsvermögen bedacht hat. In der Tat hat der im Buch entfaltete Dreiklang „Heimat – Identität – Glaube“ trotz aller radikalen, weltweiten Veränderungen in Politik und Kultur seine bleibende Bedeutung. Das Buch festigt die darin enthaltenen Werte und ist ein wichtiger Beitrag zur Zeitgeschichte.

 

 

 

 

 

 

 

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