Nachruf auf ein Idiom

Teile diesen Artikel

Wer spricht heute in Hermannstadt noch „Kucheldeutsch“?

Ausgabe Nr. 2663

In Zeiten, in denen die Listen der vom Aussterben bedrohten oder bereits ausgestorbenen Pflanzen, Tiere, Völker, Sprachen immer länger werden, ist an ein Idiom zu erinnern, dass so gut wie unbemerkt uns ebenfalls abhandengekommen ist. Noch vor vierzig Jahren schrieb der aus Siebenbürgen stammende, in Hermannstadt zur Schule gegangene und damals schon viele Jahre in Deutschland tätige Journalist Alfred Coulin (1907–1992), ein Sohn des Malers Artur Coulin: „Auf der Welt gibt es nur wenige Städte, die über eine eigene und nur ihnen eigene Sprache verfügen. Hermannstadt in Siebenbürgen zählt dazu. Die dort oft zu hörende Sprache ist das sogenannte Kucheldeutsch.“

Damals mag man diese „Sprache“ auf der Straße oder im Bekanntenkreis noch oft gehört haben, inzwischen ist sie mit ihren Sprechern ausgestorben oder bestenfalls ausgewandert, was Coulin mit folgender Anekdote belegt: »Der Hermannstädter hält, wie gesagt, an seinem Kucheldeutsch fest, und wer es spricht, ist überzeugt, es sei Deutsch, was – wie glaubhaft berichtet wird – in einem Kaufhaus einer deutschen Großstadt zu folgender Szene geführt hat: Ein siebenbürgisches Ehepaar kommt mit seinem etwa zehnjährigen Sohn in das Kaufhaus. Was er sieht, spricht den Jungen sehr an, und so stellt er unaufhörlich Fragen. Er verwendet dabei unbekümmert den von Haus aus gewohnten sächsischen Dialekt, bis dem Vater die Geduld reißt. Der Junge bekommt eins hinter die Ohren, und der Vater herrscht ihn an: ,Red nimmähr das ordinäre Sächsisch, hier gibts keine Purligaren, hier red mer deitsch, wie es sich geheert.‘«

An dieser Stelle müssen zwei Dinge geklärt werden, erstens: Diese Anekdote hatte fünfzehn Jahre davor der Hermannstädter Sprachwissenschaftler Bernhard Capesius (1889–1981) auch schon erzählt: »Zu welch lächerlicher Einstellung die leider ziemlich verbreitete Unterschätzung des Dialekts führen kann, zeigt ein Beispiel aus Hermannstadt, wo in weiten Kreisen ein gewisser schriftsprachlicher Jargon, das sogenannte „Kucheldeutsch“, gesprochen wird. Unlängst wies eine Mutter ihre Kinder mit den Worten zurecht: „Nit redts dies ordinäre Sächsisch, redts lieber scheen daitsch!“«

Zweitens: Klärungsbedürftig dürfte auch der Begriff des „Purligaren“ sein. Das Wort ist angeblich die Verballhornung des französischen Ausdrucks pour la gare, meinte ursprünglich die auf Bahnhöfen anzutreffenden Packträger und bezeichnete im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts in Hermannstadt eine Gruppe von Tagedieben, die immer an der gleichen Stelle – „beim Misselbacher am Eck“, d. i. am Großen Ring gegenüber vom Ratturm – herumlungerten und angeblich die meiste Zeit über den Sinn des Lebens räsonierten, weswegen der Schriftsteller Otto Fritz Jickeli (unter dem Pseudonym O. F. Krasser) in seinem „Hermannstadt“-Buch von 1927 ihnen als „Philosophen“ ein kleines Denkmal setzte.

Ob diese Herrschaften auf Hochdeutsch, Kucheldeutsch oder Siebenbürgisch-Sächsisch „philosophierten“, ist nicht überliefert. Aber was um Himmels Willen ist Kucheldeutsch? Wie klingt/klang es? Natürlich wusste es der kluge Herr Coulin: Kucheldeutsch ist »eine sehr merkwürdige Mischsprache. Es ist zunächst ein verkommenes Deutsch, das sich als Umgangssprache zwischen den aus allen Teilen der ehemaligen österreich-ungarischen Monarchie nach Hermannstadt kommandierten Soldaten (die Stadt war eine der großen k. u. k. Garnisonen) sowie den auch aus vielen Teilen Siebenbürgens meist zur Ausbildung in die „Hauptstadt“ gekommenen Hauspersonals der verschiedensten Nationalitäten herausgebildet hatte – daher auch sein Name: Kucheldeutsch, von Kuchel = Küche. Dazu kamen Einflüsse aus der sächsischen Mundart, aus dem Rumänischen, dem Ungarischen und aus etlichen anderen Sprachen, alles gefördert durch Maulfaulheit und Schlamperei. Obgleich es in Hermannstadt niemals ein sehr ausgeprägtes Patriziat gab, wurde dieses Kucheldeutsch nicht nur von den „Literaten“ in der Oberstadt, sondern auch von vielen anderen Einwohnern empört abgelehnt – aber im Alltag auf dem Markt oder auf der Straße, wenn auch oft unbewusst, unbefangen gebraucht.

Es war eine sehr einfache und bequeme Sprache, für die u. a. kennzeichnend war, dass sie gerne mehrere Wörter zu einem einzigen zusammenzog. Man fragte nicht etwa: „Hast du einen Ball?“, sondern im Kucheldeutsch lautete die Frage „Hasten Pila?“ Die Umlaute ä, ö und ü gab es grundsätzlich nicht, alles wurde wie e bzw. i ausgesprochen […].

Die „Kucheldeutschen“ verstanden es, eine Unmenge Wörter so einzudeutschen und zu gebrauchen, als ob sie unmittelbar von den alten Germanen stammten, andererseits scheuten sie sich nicht, von den Rumänen, Ungarn, Zigeunern, Juden, Tschechen, Kroaten, Slowaken, und welche Nationalitäten es sonst noch in Siebenbürgen gab, Wörter zu übernehmen und so zu verwenden, als ob es deutsche Wörter wären. So hatten Männer zum Beispiel ein Jeb ([stimmhaftes sch] vom ungarischen zseb = Tasche), wobei ungeklärt ist, ob es der, die oder das Jeb heißt, der Artikel spielte im Kucheldeutschen eine völlig untergeordnete Rolle. Der Junge besaß ein Britschag (rumänisch briceag = Klappmesser), wer „pustig“ daherredete, war „plemplem““ (aus dem Jiddischen) usw. Wer weiß noch, was schmugeritzig [klein, mager] oder hopetatschig [österr.: unbeholfen, ungeschickt] bedeutet, auf welches „Geserres“ [von jüd. Geseires: Gejammer, Geschwätz; Aufhebens machen] mit „Ja, deine Tant!“ zu antworten war? Überhaupt hatte man‘s oft mit der Familie – bis zur Großmutter, der „Groß“, vorzugsweise der „wilden Groß“, die bei keineswegs salonfähigen Flüchen gerne zitiert wurde.« [Auslassungen und Erläuterungen in eckigen Klammern – H. W.]

Coulin äußerte eingangs die Meinung, dass die „Kucheldeutschen“ davon überzeugt wären, dass das, was sie sprachen, Deutsch sei. Doch ihr sprachliches Selbstbewusstsein war weitaus geringer, als er vermutete. Der Sprachwissenschaftler Andreas Scheiner (1864–1946) hatte Mühe, für die Stichwortliste, die er für seine Untersuchung der „Mundart der Sachsen von Hermannstadt“ (erschienen 1923) brauchte, gerade mal einen Gewährsmann aufzutreiben, der bereit war, ihm Rede und Antwort zu stehen, und auch der war eigentlich im Siebenbürgisch-Sächsischen beheimatet und nicht im „kucheldeutschen“ Jargon der Hermannstädter Unterstadt, dem Handwerkerviertel, berichtet Scheiners jüngerer Kollege Karl Kurt Klein (1897–1971). Die anderen, heißt es, schämten sich.

Allerdings erfuhr das „Kucheldeutsche“ eine unverhoffte, wenn auch vorübergehende Aufwertung, schreibt K. K. Klein, und zwar in den frühen 1940er-Jahren, als – zwischen September 1940 und August 1944 – das Leben der in der „Deutschen Volksgruppe in Rumänien“ (DiVR) zusammengefassten Sachsen und Schwaben von deren Führung im nationalsozialistischen Sinne reglementiert wurde. Per „Stabsbefehl Nr. 22“ – das genaue Ausstellungsdatum ist mir nicht bekannt, vermutlich im Februar 1941 – ordnete der „Volksgruppenführer“ Andreas Schmidt folgende Sprachregelung an: »Es hat in Zukunft die Bezeichnung „Siebenbürger Sachse“ oder „sächsisch“, „Banater Schwabe“ oder „schwäbisch“ sowohl mündlich als auch schriftlich wegzufallen. Es ist darnach zu trachten die Rumänen daran zu gewöhnen, nicht mehr das Wort „Sachse“ oder „Schwabe“ zu verwenden, sondern „Deutscher“ (german). Zugleich befehle ich für die Zukunft, dass in den Dienststellen der Partei und Volksgruppe die Mundart nicht mehr gebraucht werden darf.«

Den Mundartsprechern sollte die Mundart ab- und das Deutsche angewöhnt werden. Dagegen waren die „Kucheldeutschen“ im Vorteil: Sie sprachen von Haus aus deutsch, also eigentlich „daitsch“. Und dieses „Daitsch“, merkt K. K. Klein an, wurde nicht nur in Hermannstadt, sondern so oder ähnlich auch in anderen Städten mit sächsischer Bevölkerung gesprochen, zum Beispiel in Broos, Mühlbach, Mediasch und Bistritz.

Und heute?!

Horst WEBER

 

Quellen:

Alfred Coulin: Vom „Kucheldeutsch“ in Hermannstadt. In: Sprache als Heimat. Auswanderer erzählen, hg. Peter Nasarski. Berlin/Bonn 1981 [= Schriftenreihe der Internationalen Assoziation Deutschsprachiger Medien 2], S. 53–57.

Siebenbürgisch-Sächsisches Wörterbuch, Bd. 8 N-P. București/Köln u.a. 2002, S. 347 u. 457, führt „Pila“ auf lat. Pila = Ball, Kugel und „Purligar“ auf rum. potlogar = Gauner, Nichtsnutz zurück. „Pustig“ reden meint unnütz reden (S. 460).

Bernhard Capesius: Ist Dialekt unfein? In: Neuer Weg vom 3. September 1965, S. 2.

Karl Kurt Klein: Das „Rätsel der siebenbürgischen Sprachgeschichte“. Die Goten-Geten-Daken-Sachsengleichung in der Sprachentwicklung der Deutschen Siebenbürgens. In: Ders., Transssylvanica. Gesammelte Abhandlungen und Aufsätze zur Sprach- und Siedlungsforschung der Deutschen in Siebenbürgen. München 1963 [= Buchreihe der Südostdeutschen Historischen Kommission 12], S. 90–139.

Arhivele Naționale Sibiu, Fond Grupul Etnic German – Cercul Mediaș: Oficiul economic-industrial. Corespondență, circulări, dispoziții 1941–1942.

 

 

Veröffentlicht in Sprache, Aktuelle Ausgabe.