Erinnerungen an die Hermannstädter Philharmonie zum 70. bzw. 180. Geburtstag
Ausgabe Nr. 2630

Heinz Acker am Pult der Hermannstädter Staatsphilharmonie, Solist: Peter Szaunig, 2. Klavierkonzert von Franz Liszt, 1972
Vor mir tickt ein altertümliches Metronom sein noch immer zuverlässiges Tick-tack und gemahnt an alte Zeiten in Hermannstadt. Ich habe es von meiner bescheidenen Gage beim Debütkonzert als Dirigent der Hermannstädter Staatsphilharmonie (1970) gekauft. Das Gewicht auf der Pendelskala steht auf 70. Ein ruhiges Andantino-Tempo suggeriert relativ stabil verlaufende 70 Jahre seit der Gründung der Hermannstädter Staatsphilharmonie (1949). Nun schiebe ich den Regler auf 180. Ein aufgeregt pulsierendes Presto kündet von den erregenden 180 Jahren seit der Gründung des Hermannstädter Musikvereins (1839). Welches Ereignis feiern die Hermannstädter denn nun eigentlich? Wohl am besten beides, denn das eine ist ohne das andere nicht denkbar und beides verbindet sich in meinem Geist mit einem legendären Saal in Hermannstadt.
In unserer Familie hieß er stets „der Musikvereinssaal“, der spätere Probenraum der Hermannstädter Staatsphilharmonie, heute bekannt als „Hermania“ -Restaurant (Auf der Kleinen Erde/Str. Filarmonicii). Was hat dieser ehrwürdige Saal nicht alles erlebt, seit er 1878 auf der Kleinen Erde seiner Bestimmung als Sitz des Hermannstädter Musikvereins übergeben wurde. Damit hatte sich endlich der Traum eines eigenen Domizils seit der Gründung des Vereins (1839) erfüllt. Die Aura eines großartigen, Jahrhunderte alten Musiklebens dieser Stadt war in diesem Saal gefangen, einer Tradition, die mit der Auflösung sämtlicher siebenbürgisch-sächsischer Kultureinrichtungen als Folge des Zweiten Weltkrieges ein jähes Ende finden sollte.
Da im Trümmerfeld der Nachkriegsjahre setzen meine Erinnerungen ein.
Ich sehe mich noch als Kleinkind bei Konzerten im alten Stadttheater des Dicken Turms (bevor dieser 1949 abbrannte), auf dem Schoß der Großeltern leidenschaftlich das ganze Konzert mit dirigierend. Da zeigte sich offenbar schon früh der impulsive Drang, Musik mit körperlicher Bewegung zu verbinden.
Und ich sehe mich später als Schüler bei den wöchentlichen Sinfoniekonzerten mit Henry Selbing (1912-2000), dem einarmigen Dirigenten am Pult der Hermannstädter Staatsphilharmonie, die 1949 aus den Trümmern des ehemaligen Musikvereins wie auch der Stadtkapelle hervorgegangen war. Den Arm soll der Dirigent bei einem Straßenbahnunfall in Wien verloren haben, wo der junge Ernö Schlesinger (alias Henry Selbing), Hermannstädter Spross einer jüdischen Familie, zum Studium weilte und als Synagogen-Sänger wirkte. Ich lasse mich in den Bann der Orchestermusik reißen und leide gleichzeitig mit dem einarmigen „Schwerarbeiter“, der all das auf bemerkenswerte Weise mit einer Hand, der linken, zu bewerkstelligen hat und ich kann noch nicht ahnen, dass ich ihm wenig später als sein Famulus einen Gutteil seiner Arbeit abnehmen werde.

Prof. Heinz Acker liest im April 2018 im Gemeindesaal von Heidelberg-Wieblingen aus seinem Buch „Zwei Leben und …“, das 2018 im tredition-Verlag erschienen ist.
Foto: Hans Holger RAMPELT
Und ich sehe mich bei den Proben des Bach-Chors im „Musikvereinssaal“. Der ehemalige Kirchenchor hat (1959) unter dem Dach der Staatsphilharmonie den einzig möglichen Unterschlupf für eine Weiterexistenz gefunden. Zu welchem Preis? Nur schwer kann Prof. Franz Xaver Dressler (1898-1981), der legendäre Gründer dieser Vereinigung, sein Herzensanliegen, die Aufführung der großen Sakralwerke in dem atheistisch geprägten Gesellschaftssystem durchsetzen. Sakrale Kunst gehört fortan auf den Müllberg der Geschichte, gefördert werden vorwiegend systemlob(hudel)nde Gegenwartswerke – so die Parteidoktrin. Dressler gelingt es dennoch (1967), die Aufführung von Haydns „Schöpfung“ durchzusetzen. Das Wort „Gott“ muss jedoch daraus getilgt werden. Es war nicht das sprachtechnische Problem, das Großvater auf die Barrikaden trieb. Der einsilbige Gott sollte nämlich – gesanglich schwierig – durch das zweisilbige Wort Natur ersetzt werden. Das ließ sich Großvater nicht bieten. Der stadtbekannte Lehrer Georg sprang auf, warf die Noten auf das Pult und schrie erbost: „Nein, nein, ich kann meinen Gott nicht verleugnen“, sprach‘s und verließ sichtlich erregt und grußlos den Probenraum. Die allgegenwärtigen Lauschohren hatten bald dafür gesorgt, dass man auch in der Landeshauptstadt von der Revolte des pensionierten Lehrers gehört hatte und die Kulturauguren erstaunlicherweise zum Einlenken bewogen. Dressler konnte bei der Generalprobe Entwarnung geben und Haydns Gotteslob ist wohl bei dem Konzert noch nie mit solcher Inbrunst geschmettert worden.
Ich habe Dressler bewundert, nicht nur für die Standhaftigkeit, mit der er sich in schwersten Zeiten und trotz persönlicher Drangsalierungen (er wurde zwei Mal zur Zwangsarbeit an den „Kanal“ verschleppt) hartnäckig und kompromisslos für die Pflege der musica sacra eingesetzt hat. Dressler war der Halbgott unserer Kindheit. Die Großeltern hatten uns Knirpse – in Ermangelung eines Kindermädchens – zu den Proben des Bachchors mitgenommen. Da saßen nun die verwaisten Ackerbuben (Vater im Krieg gefallen, Mutter nach Russland verschleppt) und waren fasziniert von dem Zappelmann, der so herrliche Musik hervorbrachte. Er war das Vorbild unserer kindlichen Spiele und die prägende Gestalt für die Entfaltung der beiden Ackerbrüder Dieter (1940-2006) und Heinz (geb. 1942) zu Musikern. Das Musikstudium hat unsere unterschiedlichen Anlagen gefördert. Dieter war der ausgesprochen „schöpferische“ Typ, introvertiert auf die innewohnenden schöpferischen Kräfte bedacht. Er ist ein vielbeachteter Komponist geworden. Ich war hingegen eher der „nachschöpfende“ Typ, der sich sensibel auf das Werk eines anderen einzulassen hat. So kam es mir zugute, dass ich nach dem Klausenburger Musik-Studium an die neugegründete Musikschule nach Hermannstadt kam und hier mit einem hervorragenden Schülerpotenzial gleich ein Sinfonieorchester gründen konnte, das bald sogar auf Landesebene Aufsehen erregte. Das ist natürlich auch Henry Selbing, dem Dirigenten der Staatsphilharmonie aufgefallen. Er witterte, dass da ein junger Dirigent aufstrebte, der ihm von Nutzen sein konnte. So hat er mir nach und nach immer weitere Aufgaben übertragen, die ihn, den Einarmigen, zunehmend belasteten. Das waren zunächst Orchesterproben, Ausfahrten und Lehrkonzerte. Bald aber vertraute er mir vermehrt auch die Leitung von Sinfoniekonzerten an, denn die große Zustimmung von Orchester und Publikum war deutlich erkennbar. Es war eine Win-Win-Situation für beide: er sah sich ohne finanziellen Mehraufwand entlastet und ich hatte plötzlich Gelegenheit mit einem professionellen Orchester zu arbeiten, auch wenn ich nichts dabei verdiente. Für mich war es dennoch ein unschätzbares Geschenk, denn was ist ein Dirigent ohne Orchester? Nur in der Arbeit mit dem Orchester kann er Erfahrungen sammeln. Voraussetzung ist natürlich, dass ihm gelingt, sich vor dem großen Kollektiv des Orchesters künstlerisch und menschlich zu behaupten. Das muss dem jungen Hitzkopf geglückt sein, denn Anton Duma, der Konzertmeister versicherte mir wiederholt, dass das Orchester voll hinter dem Jungspund stünde: „Tu dai numai din beţişor, că noi cântăm“ (Ich solle bloß den Taktstock schwingen, sie würden [gerne] spielen) und Toma Tohati, der damalige Musiksekretär konnte sich nicht genug über die Leichtigkeit meines Dirigats vewundern „Dar cum faci, mă Hans, de reuşeşti aşa?“ (Wie schaffst du das bloß, Hans?).

Ankündigung des ersten öffentlichen Konzerts des Hermannstädter Musikvereins im städtsichen Redouten-Saal am 24. März 1839.
Aber auch der zweite Dirigent des Hauses, Dressler als Leiter des Bach-Chors, war auf mich aufmerksam geworden. Nach Jahren der Drangsalierung durfte der anerkannte Bach-Interpret und Orgelvirtuose nun auch vermehrt im Ausland auftreten. Da brauchte er einen zuverlässigen Stellvertreter. Auch diese Aufgabe habe ich gerne wahrgenommen. Erst als ich ihm meinen Reisepass zeigte, gestand er, dass er mich für seinen Nachfolger vorgesehen hatte.
Es sollte alles anders kommen. Zunächst warteten noch weitere Aufgaben auf mich. Auch die lokale Presse („Hermannsädter Zeitung“, damals „Die Woche“) hatte den jungen Musiker als fachkundigen Musikrezensenten entdeckt. Das war nicht einfach, war ich doch einerseits Teil dieses Musikbetriebes, sollte aber gleichzeitig die nötige Distanz objektiver Berichterstattung wahren. Ein Ritt auf der Rasierklinge.
All das hatte ein plötzliches Ende als mein Bruder Dieter die Einladung zu den Darmstädter Musiktagen (1969) nutzte und dem Land, das ihm als Komponist Fesseln anlegte, den Rücken kehrte. Es war der Todesstoß für den im Land verbliebenen Bruder. Dirigierverbote, Schreibverbote und die unerträglichen Drangsalierungen der Securitate haben mich schließlich bewogen, auch einen Ausreiseantrag zu stellen, was dann den Ausschluss aus dem Lehramt zur Folge hatte. Das schreckliche Erdbeben in Bukarest am Ausreisetag (4. März 1977) war nur der Schlussakkord, der Paukenschlag nach dem grauenhaften Szenario der letzten Jahre.
Wieder betreten habe ich die Philharmonie erst Jahre später, gelegentlich einer Tournee, die ich 2001 als Dirigent des von mir gegründeten Bruchsaler Jugendsinfonieorchesters nach Siebenbürgen unternahm. Die Frage, ob man sich in meiner Heimatstadt noch an das vielfältige Wirken des ehemaligen Jungsporns Heinz Acker erinnern würde, war schnell beantwortet. In der Philharmonie saßen nun viele meiner einstigen Musikschüler an den Pulten und die große Stadtpfarrkirche war bei dem Konzert bis auf den letzen Platz mit Zuhörern gefüllt, die den „verlorenen Sohn“ dieser Stadt mit seinem erfolgsverwöhnten Orchester und Schuberts großer C-Dur-Sinfonie erleben wollten. Die Schlange der andrängenden Gratulanten und das Händeschütteln wollte danach kein Ende nehmen. Da beschlich mich ein großes Gefühl der Dankbarkeit. Dass ich im Westen so reüssierte, verdankte ich sicher auch den vielfachen Erfahrungen, die ich in meinen Hermannstädter „Lehrjahren“ sammeln durfte.
Der Bogen schließt sich wiederum einige Jahre später. Unsere Goldene Hochzeit ist Anlass, unsere drei Söhne samt Familien nach Hermannstadt einzuladen. Gefeiert wird im Restaurant „Hermania“. Beim Probeessen steht mein Tisch genau auf dem Platz, an dem vormals das Dirigentenpult platziert war und ich meine ersten Sporen als Dirigent verdienen durfte. Das Festessen aber findet im „Separée“ statt. Es ist das ehemalige Zimmer der Direktion, wo mir Henry Selbing einst seine Dienstanweisungen gab. Da habe ich meinen Kindern und Enkelkindern viel zu berichten.
Prof. Heinz ACKER