Streiflichter von der 72. Auflage des Internationalen Filmfestivals in Cannes
Ausgabe Nr. 2626

Die Ehrenpalme für sein Lebenswerk ging an den Schauspieler Alain Delon, der dafür minutenlangen Stehapplaus erhielt. Der inzwischen 83-Jährige blickt auf 62 Jahre Filmkarriere zurück.
Foto: Agerpres/AP
Es war ein seltsames Jahr ohne wirkliche Spitzenreiter, alle Filme waren etwa auf der gleichen Ebene, es scheint, dass die Jurys viel diskutierten und auch bei den Wertungen der Kritiker in den Festivalzeitungen sah es ähnlich aus. Einige Titel konnten Kritik und Publikum verbinden, wie Ken Loach, der in „Sorry we missed you” die Ausbeutung der franchisierten Chauffeure bei Lieferungen ankreidet. Auch Pedro Almodovar fand viele Befürworter mit „Schmerz und Ruhm”, wo ein Filmregisseur (Antonio Banderas, Darstellerpreis), auf sein Leben zurückblickt. Ähnlich die Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne (Regiepreis) in „Der junge Ahmed” über einen 13jährigen Jungen, der radikalisiert ist und seine Lehrerin ermorden will, weil sie die arabische Sprache nicht nach den „Regeln des Korans” unterrichtet.
Sehr schön auch das im 19. Jahrhundert angesiedelte „Porträt des jungen Mädchens im Feuer” von Céline Sciamma (Drehbuchpreis), die lesbische Freundschaft einer Malerin und ihrem Modell (Adèle Haenel), deren vorgeplante Heirat in Italien dadurch jedoch nicht aufgehoben wird, womit der Film zum Melodram wird.
Terrence Malick erzählt mit „Ein verstecktes Leben” die Geschichte eines österreichischen Bauern und seiner Frau, die sich dem Nationalsozialismus nicht unterordnen wollen (Ökumenischer Preis). Gleich sehr beliebt und dann mit der Goldenen Palme belohnt, „Parasit” von dem Südkoreaner Bong Joon Ho, wo eine in armen Verhältnissen lebende Familie sich nach und nach bei einer reichen Familie etabliert, zuerst der Sohn als Nachhilfelehrer, der Vater als Chauffeur, die Mutter Hausmädchen und so die Reichen parasitiert werden. Eine der wenigen Komödien des Festivals.
Der Grand Prix ging an die Senegalesin Mati Diop für ihren Film „Atlantique” über ein junges Mädchen, das sich einer arrangierten Heirat entzieht und der Atlantik ist der Weg zu einem anderen Leben.
Seltsam der von Jessica Hausner gedrehte Film „Little Joe” mit Planzenzüchtungen, die einen Einfluss auf die menschliche Psyche haben sollen. Emily Beecham bekam den Darstellerinnenpreis.
Elia Suleiman zeigt in „Es muss der Himmel sein” mit viel Humor die Probleme im Exil (Kritikerpreis und Mention spéciale der Jury, die diesmal von dem Mexikaner Alejandro Gonzales Inarritu präsidiert wurde).
Auch zu den interessanten Filmen gehörte „Frankie” von Ira Sachs über eine Schauspielerin (Isabelle Huppert), die ihre Familie und Freunde nach Portugal einlädt und von einer unbeschreiblichen Ruhe und Gelassenheit gegenüber ihrem nahen Tod ist.
„Matthias und Maxime” von dem Kanadier Xavier Dolan schien etwas unausgewogen mit endlosen Diskussionen, wenn der Film über Männerfreundschaften und Freundschaft an sich sonst auch sehr sympathisch ist. Erstaunt war man über den „See der wilden Gänse” von dem Chinesen Diao Yinan, der mit einigem Mut und recht malerisch zeigt, dass in China das Verbrechen und Unrecht ebenso an der Tagesordnung sind wie in anderen Teilen der Welt.
Außer von Céline Sciamma und Ira Sachs liefen natürlich noch viele andere Produktionen aus Frankreich. Alle waren sich einig über „Die schönsten Jahre eines Lebens” in dem Claude Lelouch auf seinen vor fünfzig Jahren gedrehten Film „Ein Mann und eine Frau” zurückkommt: mit den selben inzwischen gealterten Darstellern Anouk Aimée und Jean-Louis Trintignant. Fast zu schön um wahr zu sein wie ein hypersympathischer Kommissar (Roschdy Zem) in Arnaud Desplechin’s „Roubaix, ein Licht” zwei Mörderinnen zum Geständnis bringt. Hervorragend gezeigt und gut gemeint, aber realistisch?
Realistischer war da schon ein anderer Renner des Festivals, „Les Misérables” (Jurypreis) von Ladj Ly, wo die Polizisten mit ganz anderen Mitteln arbeiten, um der Unsicherheit in den Vorstädten von Paris Herr zu werden und übrigens mit Imamen zusammenarbeiten müssen, die allein als Autorität noch gelten.
„Sibyl” von Justine Triet über eine total durchgedrehte Psychologin (Virginie Efira), die eigentlich lieber Bücher schreibt und mit ihrem Leben nicht klarkommt war einer der ausgeflipptesten, aber auch gewagtesten Filme des Festivals.
Rumänien war am Wettbewerb mit dem neuen Film von Corneliu Porumboiu „La Gomera” beteiligt. Es geht darin um einen korrupten Polizisten, der an nichts mehr glaubt und mit der Mafia zusammenarbeitet und auf die spanische Insel La Gomera geschickt wird, wo er eine geheime Pfeiffsprache erlernt, um an Informationen zu kommen. „La Gomera” wurde einerseits begrüsst, weil er sein Thema mit viel Humor angeht und Vlad Ivanov als korrupter Polizist ist hervorragend. Er hat archetypische an der Filmgeschichte orientierte Frauen um sich, eine femme fatale (Catrinel Marlon), seine Chefin (Rodica Lazăr), eher in Richtung Marlene Dietrich. Aber der Film könnte eigentlich überall spielen, was streckenweise sein Interesse reduziert und Porumboiu hat das sicher mit einkalkuliert und dann eben einen Film für den internationalen Markt gemacht. Und er war in Cannes sehr kontroversiert, weil er eben nicht so tiefgehend ist wie seine anderen Filme.
Ein Beitrag zur Woche der Kritik war der Kurzfilm „Ultimul drum spre mare”von Adi Voicu. Die Tatsache, dass ein orientalisch aussehender Ausländer in einem Zugabteil ein Fenster öffnen will, provoziert zunächst xenophobe Gefühle bei den Abteilinsassen und schließlich Panik, als er bei einem längeren Bahnhofsaufenthalt sein Gepäck dalässt, weil man ihn für einen Terroristen hält.
Daneben gab es auch eine Reihe im ShortFilmCenter, Romanian Short Waves. Neben reinen Art-filmen fast für Collectors mit schönen Bildern wie den Animationsfilm „Telefonul” von Anca Damian sah man da „Insula”von Adina Dulcu. Eine Liebe, die nicht stattfand mit einem Berufssoldaten, der in Syrien fiel, gefilmt aus der Sicht des Mädchens. „Turnul din Pisa” von Dan Burlac handelt von einem schüchternen Jungen und einem exaltierten Mädchen. In „Totul e foarte departe” will eine Mutter vom Land mit ihrem Sohn den anderen Sohn in der Stadt zum Geburtstag überraschen, aber der lebt jetzt in einer anderen Welt. Was ist Liebe, fragt Regisseur Emanuel Pârvu.
Der stärkste Film dieser Reihe war sicher Bogdan Mureșanus „Cadoul de Crăciun”, wo ein Vater 1989 schier verzweifelt, als er erfährt, dass sein kleiner Sohn im Brief an den Weihnachtsmann außer seinem eigenen Geschenk auch den Tod von Ceaușescu bestellt hat, weil er verstanden hatte, dass dies Vaters Wunsch war. Wie kriegt man den Brief wieder aus dem Briefkasten?
Claus REHNIG
Anmerkung der Redaktion: In einer unserer nächsten Ausgaben veröffentlichen wir ein Gespräch mit dem rumänischen Filmemacher Cătălin Mitulescu, der bei dieser Auflage Mitglied in der Jury der Sektion Cinefondation war.