Gedanken zu einem Filmportrait der Dichterin Nina Cassian
Ausgabe Nr. 2616

Nina Cassian (1924-2014).
Foto: mediafax.ro
Wo beginnt und wo endet das Leben einer Dichterin? Beginnt es mit ihrem ersten Gedicht, endet es mit ihrem letzten Vers? Beginnt es mit dem ersten Atemzug, mit dem ersten reflektierenden Blick auf die Welt, auf sich selbst? Endet es mit dem letzten Schnörkel, den der Bleistift auf das Papier schreibt, mit dem letzten Punkt, mit der letzten Metapher?
Diese Fragen drängten sich mir auf nach der am Samstag im Gong-Theater erfolgten Vorstellung des ausgezeichneten Dokumentarstreifens „Distanța dintre mine și mine“ (Die Entfernung zwischen mir und mir) von Mona Nicoară (Regie) und Dana Bunescu (Schnitt), der ein Portrait der Autorin Nina Cassian (1924-2014) zeichnet, die sich schwer einordnen lässt.
Die am 27. November 1924 als Renee Annie Cassian in einer jüdischen Familie in Galatz geborene Schriftstellerin passte eigentlich in keine Schublade: Als eine dem Surrealismus verpflichtete Dichterin, pflegte sie das Liebesgedicht, das ironische Gedicht, das Sachgedicht, das Scherzgedicht. Als idealistische Kommunistin in der Illegalität wachte sie später aus der Illusion des Kommunismus auf, wurde akribisch von der Securitate überwacht, ging ins Exil. Stets sprach sie ohne Rücksicht auf Verluste über Kritiken ohne Substanz, über frauenfeindliche Zuordnungen, über Engagement, über Liebe. Konkret und argumentiert, strukturiert und analytisch, intelligent, unermüdlich, mit Charme, kraftvoll.
„Ich dachte an das Glück der Menschheit (…) ich glaubte, zu diesem Glück beitragen zu können. Dies erwies sich als illusorisch“, erinnert sie sich, warum sie im Alter von 16 Jahren der kommunistsichen Bewegung beigetreten ist. Und sie lacht kontemplativ und selbstironisch in ihren Statements in dem Dokumentarfilm von Mona Nicoară und Dana Bunescu. Der Titel des Films erscheint zunächst kryptisch und ganz anders zu sein als der Titel, den die Produzentin Ada Solomon seinerzeit vorgeschlagen hatte: „Nina, eroina“ (Nina, die Heldin). Das erzählte Mona Nicoară in einem Interview. Doch beide, Regisseurin und Produzentin, sprechen auch von den Rollen der Nina Cassian als Protagonistin und zugleich Betrachterin ihres eigenen Lebens, von ihrer literarischen und persönlichen Laufbahn, ausgestattet mit allen Unwägbarkeiten und Abläufen, bestimmt und bedingt von ihrer inneren Struktur und der Zeit, in der sie gelebt hat. Nichts verlief linear, nichts einfach. Aber alles war stets auf einer Achse angeordnet, die sich gleichblieb und die Cassian nie verlassen hat: Die Achse der Ehrlichkeit sich selbst gegenüber, die Achse intensiv gelebten eigenen Wahrheit.
Selbst dann, wenn sie genötigt ist, Fehler zuzugeben, tut sie dies direkt, kritisch, so dass sich ein Vorhalten oder gar eine Schuldzuweisung erübrigen: „Es war eine Zwangsjacke, die ich mir aus freien Stücken überstreifen ließ. Das ist das Problem. Es war kein ethischer Aderlass, schließlich schrieb ich den Stumpfsinn mit gutem Gewissen, es war ein ästhetischer Aderlass. Und der war gravierend.“
In dem Dokumentarstreifen wechseln sich wie im Spiegel Fragmente des Interviews, das sie in ihrer Wohnung in Roosevelt Island/New York gewährt hat, mit Archivaufnahmen und Ablichtungen aus der dicken Securitate-Akte ab. Durch diese Methode stellt die Doku genau dieses Gleichgewicht her, in das sich alles, was Nina Cassian erlebt und geschrieben hat in der Retrospektive einfügt.
Jenseits davon bietet der Film ein weiteres konkretes Bild von der im Gefängnis vorhandenen Freiheit, in deren Grenzen sich ein Schriftsteller im rumänischen Kommunismus bewegen konnte, wie dieser auftreten, schreiben, sprechen und denken konnte. Zugleich wird auch offenbar, mit welcher Verbissenheit die Securitate in dessen Intimsphäre eingedrungen ist, mit welch groteskem Engagement die Securitate-Mitarbeiter und die Informanten ihre Berichte verfassten. Darin beruht übrigens auch die Schönheit dieses Filmportraits: Die lichtvollen und charmanten Äußerungen der Cassian, gewürzt mit Zärtlichkeit und Verständnis, Klarheit und Intelligenz, wechseln sich ab mit dem metallenen Geschmack von Kugeln, abgeschossen im MG-Rhythmus der Schreibmaschinen einer auf alle Details bedachten Securitate, denen sie wie ein durchtrainierter Teufel hingebungsvoll nachjagte.
Die Doku spart keineswegs an Filmmaterial aus der Zeit, als Nina Cassian noch zu den Günstlingen der Partei gehörte, sei es aus jener Zeit, als die Illusion noch wach war, sei es in Bezug auf ihre Flucht in die Kinderliteratur, einem Ort, in dem die Metaphern noch Überlebenschancen hatten.

Dana Bunescu, Mona Nicoară und der Direktor des Gong-Theaters Adrian Tibu (vor der Bühne, v. l. n. r.) bei der Gesprächsrunde nach der Vorführung des Films im Gong-Theater für Kinder und Jugendliche am 9. März.
Foto: Dan ȘUȘA
Ungeachtet ihrer Position oder der Zeit, in der sie spricht, weist Nina Cassian die gleiche Energie auf, den gleichen logischen Aufbau ihres Gedankenganges, egal ob sie gegen das stumpfsinnige Syntagma „Frauenliteratur“ ankämpft, unfruchtbarer Kritik den Krieg ansagt oder Kindern aus ihrem Buch „Povestea a doi pui de tigru numiţi Ninigra şi Aligru“ (Die Geschichte der beiden Tigerjungen genannt Ninigra und Aligru) vorliest.
Aus einem der Archivaufnahmen, die vermutlich vom Anfang der Sechziger stammen, geht klar hervor, wie der Proletkultismus, der sich damals in den Kinderschuhen befand, einen tiefen Graben in unsere Köpfe graben konnte, der bis heute nicht ganz zugeschüttet werden konnte. Der Vorspann dient einer der Poesie gewidmten Sendung, Gastgeber und Moderator ist Adrian Păunescu, Gäste sind Marin Sorescu und Nina Cassian. Die Kulisse entspricht der bolschewistischen These über die Massenkultur: Ein Werk, in dem alle Arbeiter zusammengetrommelt worden waren, um den Dichtern als Publikum zu dienen. Diese Arbeiter sind nicht bloß als Statisten da, sie stellen sich mannhaft der modernen Lyrik und vermissen darin den Reim, bemerken, wie einfach es sei, Eminescu und Coşbuc zu verstehen. Sie üben lautstark Kritik an der Degradierung der Poesie und fragen sich mit proletarischer, an Infantilismus grenzender Wut:„Denken unsere Dichter vielleicht zu poetisch?“ Für Nina Cassian ist die Herausforderung zu einfach gestrickt und ihre Antwort erfolgt rasch, schön formuliert und entschieden. Dieser Reflex, die Kunst auf ein Level volksnaher, bequemer, leicht nachvollziehbarer Rezeption zu beschränken, die keinerlei Übung, keine Zeit für das Reflektieren, keine Bemühungen in Sachen Lernen, Entdecken, keinen Perspektivwechsel erfordert, geistert immer noch fleißig durch die Köpfe und wird wohl nicht so bald ausgemerzt sein.
Doch jenseits der visuellen und narrativen Anmut des Films von Mona Nicoară und dem akkuraten Schnitt von Dana Bunescu, jenseits seiner einem Testament naheliegenden Qualität, wenn man bedenkt, dass der Film nur einige Monate vor dem Tod der Schriftstellerin gedreht worden ist, jenseits der Archivaufnahmen und der Dokumente, lädt der Film ein, Nina Cassian zu entdecken und wieder zu entdecken, mit allen ihren Defekten, Effekten und Qualitäten. Er lädt ein, nachzudenken über das Vergessen, das sie in den 24 Jahren zwischen der Revolution von 1989 und ihrem Tod 2014 umhüllt hat. In dieser Zeit hätten wir sie zurückerobern können, sie uns erklären, uns ihr annähern, sie verstehen, sie lieben können.
Wir haben diese Zeit vergeudet und ihr das Gefühl vermittelt, dass sie nur sehr spät Aufmerksamkeit erfahren hat.
Die Zeit ihres Exils war eine schwere Zeit, aber sie eröffnete ihr auch die Möglichkeit, in das Gedächtnis der neuen Örtlichkeit und der Sprache einzugehen, in die sie ihre Gedanken und Verse ummünzen musste. Sie tat es genauso wie in der rumänischen Sprache: intensiv, leidenschaftlich, humorvoll und mit sprühender Vitalität.
Ein langer Weg von dem ersten Gedicht, das sie im Alter von fünf Jahren geschrieben hatte – Zăpada proaspătă se lasă, /pe câte o casă, pe câte o casă/Şi geamul este îngheţat/E linişte, toţi sunt în pat,/Doar eu un om, un rătăcit/Caut un loc de adăpostit – und das sie nach ca. 80 Jahren mit dem feinen Lächeln quittiert, das die Distanz erlaubt: „Kein Problem, ich habe auch als Erwachsene stumpfsinnige und kindliche Gedichte geschrieben.“
Dieser Weg führte durch 50 Lyrik- und Prosabände und am Ende bleibt das Gedicht, so gelesen beim Vorbeifahren oder beim Warten auf eine U-Bahn in New York, gezeichnet von Marken einer Zeit, der sie sich nicht ergeben hat und eines Lebens, das sie mit dem Stolz ihrer Wahrheit gelebt hat, für den Sieg der Liebe über die Vereinsamung und für die Kunst, dies in Worte zu fassen: I stood during the entire journey:/nobody offered me a seat/although I was at least a hundred years older than anyone else on board,/although the signs of at least three major afflictions/were visible on me:/Pride, Loneliness, and Art.
Doina GIURGIU
(Deutsche Fassung des in rumänischer Sprache auf LiterNet.ro erschienenen Beitrags:
Beatrice UNGAR)