Schreiben als Virtuosität

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Hommage zum 120. Geburtstag von Erwin Wittstock

Ausgabe Nr. 2614

 

Erwin Wittstock

Eine Hommage an Erwin Wittstock (geb. am 25. Februar 1899, Hermannstadt) erinnert den Laien und Lehrling der Schriftkunst mit tiefer Melancholie an den Untergang der siebenbürgischen Bildungsmittelschicht und an die Erkenntnis, dass die Wurzeln unserer Identität als Volk tief in der Erde ihre Nahrung zu suchen haben. In großem Schaffensdrang und in Tuchfühlung mit allen gesellschaftlichen Ereignissen und Persönlichkeiten seiner Zeit, verstarb der Autor der Romane „Bruder, nimm die Brüder mit“ (1933), „Die Freundschaft von der Kokelburg“ (1935), „…Abends Gäste…“ (1938) oder des bekannten „Das jüngste Gericht in Altbirk“ (1971, aus dem Nachlass) sowie des umfangreichsten „Januar ’45 oder Die höhere Pflicht“ (ebenfalls aus dem Nachlass, 1998), umgeben von Schreibprojekten und unvollendeten Werken, 1962 in Kronstadt, aufgrund einer längeren Krankheit.

 

Seine Biographie sowie eine grundlegende Monographie zu seinen Werken ist weiterhin ein Desiderat der siebenbürgisch-sächsischen Forschung zumal sein Werk laut Bergel und Myß „Erzählinstinkt und angeborenen Humor“ sowie „epische Ökonomie“ aufweisen, und insgesamt seine Prosaepik „ob sie gattungsmäßig dem Novellistischen oder dem Roman zugeordnet werden mag, nicht bloß ihrem zahlenmäßigen Umfang nach eine Bereicherung (ist), sondern v. a. nach ihrem substantiellen Gewicht, ihren inneren Dimensionen und ihrer Aussage.“ (S. 260)

Seine Philosophie des Schaffens zu eruieren und zu ergründen, muss Gegenstand der neueren Generation nach 1968 und der Wende von 1989 werden, um von der Nachwelt in ihren  Bauelementen sachlich rekonstruierbar und plausibel erklärt zu werden, Erwin Wittstock war ein Europäer siebenbürgischer Prägung mit dem Horizont eines Architekten und Musikers gleichzeitig.

Der Pfarrerssohn und Quinta-Schüler Erwin Wittstock verließ die traditionsreiche Schäßburger Bergschule mangels guter Leistung und legte seine Matura in Mediasch ab. Bis zuletzt nicht zu verkennen war ein freiheitsliebender Zug des jungen Mannes, der daraufhin Fähnrich der untergehenden k. u. k. Monarchie wurde und bis zum Ende des Ersten Weltkriegs in Italien kämpfte. Der Zweite Weltkrieg fand ihn wiederum auf falscher Seite, bereits als Jurist und freier Schriftsteller in Hammer in Böhmen, wo er mit einer großen Familie ein Haus besaß.

Sein Werk wurde von den Nationalsozialisten instrumentalisiert und der Autor gefeiert. Zwischen den Zeilen nicht gelesen wurde seine Verpflichtung Siebenbürgen gegenüber, die er nicht zum Gegenstand politischer Propaganda machen wollte, sondern die von innen heraus ureigenste Prägung und Wirkung einer guten Erziehung war. Vor Ende des Krieges nach Rumänien zurückgekehrt wurde er Zeuge der Deportation der deutschen Bevölkerung am 13. Januar 1945. Diesem Thema widmete er sein letztes und bisher wichtigstes aber kaum wahrgenommenes Werk: „Januar ’45 oder Die höhere Pflicht“.

Inwiefern dieses Werk therapeutische Bearbeitung eines Massentraumas war, lässt sich nur unter dem Eindruck von Herta Müllers Roman „Atemschaukel“ beurteilen, durch den die Deportation europäisches Thema wurde und das mithilfe eines Ich-Erzählers darbringt, was Wittstock in dritter Person, die des Unternehmers Direktor Fellner, Vater von Wilhelm, Norbert, Gustav und Hedwig, sachlich erzählt und nur indirekt beleuchtet. Ob diese auktoriale Distanz Kunstgriff und Überbleibsel des bürgerlichen Romans des 19. Jahrhunderts sein muss oder vielmehr das Ergebnis einer bedachtsam-interiorisierten und integrierten Persönlichkeitsstruktur Wittstocks ist, bleibt der heutigen Forschung noch zu Tage zu befördern.

Sein Werk macht im Laufe der Jahrzehnte und tiefgreifenden politischen Machtwechsel öfter Wandlungen durch: Von ironisierender Kleinprosa voll schwarzen Humors wie z. B. in „Ausflug mit Onkel Flieha“ (veröffentlicht in „Wir Siebenbürger“, Herausgeber Hans Berger und Walter Myß, Wort und Welt Verlag, Innsbruck) bis hin zu melancholischen Passagen aus „Freunschaft an der Kokelburg“, die ein Jugenddrama episch bearbeiten und lokalisieren, ob nun zu philosophischen Gedankengängen und Schlussfolgerungen über Volkstum und Brauchtum in Siebenbürgen (im „Herodesspiel“ oder „Dem Begräbnis der Maio“), ob zu Fragen der materialistischen, kommunistischen Philosophie von Marx  und zum Idealismus Hegels (in hervorragend gekonnter und sehr dramatischer Replique zu den „Brüdern Karamasow“ von Fjodor Dostojewski), oder sogar zu kunstgeschichtlichen Betrachtungen in dem typisch siebenbürgischen Kurztext „Oussichtslies – Aussichtslos“ – in Wittstock finden wir einen Gelehrten, dessen Wort uns in Buchform überliefert, was Generationen bewegt hat und uns zu dem gemacht hat „wat mer seng“.

Ob seine Worte zeitgerecht oder um einiges zu früh, gewissermaßen als „Hipster“ der Schrift und des Wortes, kamen, müssen kommende Generationen beurteilen – unsere Gedanken dazu sollen ihnen jedoch nicht vorenthalten bleiben: Sprachlich schlägt Wittstock den Weg der bildungsbürgerlichen Tradition des 19. Jahrhunderts ein und schreibt den Roman des 20. Jahrhunderts neu und in befreiender Vielfalt der schriftstellerischen Methoden.

Der bereits erwähnte Dialog zu den wichtigsten politischen und philosophischen Strömungen – Idealismus und Materialismus – ergänzt die inneren Monologe in dritter und erster Person (verblüffende Parallelen, Bezüge zu und Neuinterpretationen des psychologischen „Gedächtnisstroms“ des französischen und englischen Romans des 19. und 20. Jahrhunderts) und die vielen Briefe, die der Roman wiedergibt. Dramatische Verwicklungen und bisweilen sogar komische Elemente vervollständigen das Bild eines großen Romanciers, zumindest in „Januar ’45 oder Die höhere Pflicht“. Eine wahrhaft Kleistsche Sprachkompetenz packt den Autor, dermaßen, dass die lyrischen oder epischen Beschreibungen wieder und wieder lektoriert werden wollen, Häufungen von Attributen sind ihm zwar fern, jedoch birgt der Text überraschende Wendungen, „Schachtelsätze“, und treffende Lokalisierungen der Handlung. Die beschriebene Stadt ist Hermannstadt der Kriegszeit 1939-1945 (Bukarest nur zum Teil), aber diese relativ kurze Zeitspanne wird um ein breites gesellschaftliches Portrait vieler unterschiedlicher Häuser und politischer, administrativer und industrieller Institutionen erweitert.

Die „epische Ökonomie“ (siehe Hans Bergel und Walter Myß) besagt, dass der Text rationell, kohärent ist und einleuchtende Argumentation mit eindrucksvoller Ausdrucksweise verbindet. Treffend sind auch Personenkonstellationen beschrieben und konstruiert: Die Familie ist groß und Beziehungsverwicklungen untereinander und mit anderen sind, aufgrund des jungen Alters der Kinder und der aussichtlosen politischen Lage, gegeben. Charaktere und Typen erstehen vor den Augen des Lesers bildhaft, ja in lebensgroßer Anschaulichkeit und plausibler Tiefe, und der kontemplative Blick wird dadurch belohnt, dass der Erzählstrang für Wittstock typisch knapp und logisch nachvollziehbar verläuft. In gewisser Weise verdankt Wittstock seinen Stil dem historischen und bürgerlichen Roman, aber er umgibt den Leser mit wahrheitsgetreuer und konsequent wertungsfreier Wiedergabe eines gesellschaftlichen Dramas der Größenordnung des 20. Jahrhunderts.

Erwin Wittstock: Januar ’45 oder Die höhere Pflicht. Mit einem Nachwort von Joachim Wittstock, ADZ-Verlag, Bukarest, 1. Auflage 1998, 2. Auflage 2002. 357 Seiten. ISBN 978-9738-384026

Der politische und philosophische Roman nach Wittstock hat zu unterschiedlichem Epigonen-Dasein geführt. Inwiefern Herta Müller ihrer Thematik nach ihre schriftstellerische Identität Wittstock verdankt, muss noch erforscht und kritisch beurteilt werden. Wir wollen uns ein definitives Urteil auch nicht anmaßen, zumal ihr Stil dem Wittstocks entfernt liegt. Das Thema der Deportation  – und das ist ihr großer Verdienst – hat Herta Müller der Welt bekannt gemacht, jedoch findet der Siebenbürger in Wittstock den geistigen Vater, Architekten und Virtuosen einer dramatischen Konstruktion zur Deportation, die zahllose Schicksale und unser Jahrhundert geprägt hat. Die totale Widerstandlosigkeit und das Zerbechen sämtlicher Institutionen einer Minderheit wird darin beweint, wieder heraufbeschworen werden die meisterhafte Fachkompetenz der siebenbürgisch-sächsischen Handwerker seit ihren Ursprüngen und ihre gemeinschaftliche Verfolgung und Vertreibung, und erkennbar ähnlich zu vorhergegangenen Generationen wird die nationale Idee verteidigt. Jedoch bleibt Wittstock hier nicht stehen: Sein Blick richtet sich auf die Wiedergabe und somit die Hoffnung auf Wiederherstellung und Rehabilitierung eines gedemütigten Volkes und bereichert die Geschichte der siebenbürgischen Literatur um ein Werk, das europäischen Horizont, wertungsfreie Sachlichkeit anstatt des pathetischen Nationalbewusstseins der Vorgänger-Literatur und gekonnten Stil beweist.

Aufgenommen wurden seine frühen Titel in Hans Bergels und Walter Myß Literaturgeschichte in zwei Bänden sowie in die „Literaturgeschichte der Deutschen in Siebenbürgen – Ein Überblick“ von Hans Bergel (Wort und Welt Verlag 1987) mit der bedauernswerten Konstatierung zur Situation Wittstocks unter der kommunistischen Zensur: „Das offene, sowohl kritische wie deutende Wort zu Gegenwartsfragen war freilich auch ihm ebensowenig gestattet wie jedem anderen“. (S. 84).

Aus der Sicht der Nachwelt bleibt die Frage offen, wie Wittstock die Gesellschaft unter dem kommunistischen Regime gesehen hat, bzw. die Generation X beschrieben hätte, die zwischen Konsum und materialistischem Streben und Aufbegehren ihren Weg in die Freiheit weiterhin suchen muss.

Anne TÜRK-KÖNIG

 

 

 

 

 

 

Veröffentlicht in Literatur, Aktuelle Ausgabe.