Hermannstädter Germanistik-Studierende bei Jugendbegegnung in Kreisau
Ausgabe Nr. 2603
Eine fünfköpfige Studentinnengruppe der Lucian Blaga-Universität Hermannstadt, begleitet von ihrer Dozentin Sunhild Galter, nahm vom 5. bis 9. November d. J. in Kreisau/Krzyzowa in Polen an einem Jugendbegegnungsprojekt zum Thema Migration teil. Nicht nur die beteiligten Studentinnen, auch die Kolleginnen und Kollegen von der Germanistik fragten: Wieso wir? Was haben wir denn für eine Verbindung zu Polen? Nun, das ist schnell erklärt: 2017 wurde zwischen dem Institut für Germanistik der Jagiellonen-Universität Krakau, eine der ältesten in Europa, und der Lucian-Blaga-Universität aus Hermannstadt eine Erasmus-Partnerschaft eingegangen, man besuchte sich und als die Krakauer Germanistik sich zusammen mit der berufsbildenden Alice-Salomon-Schule aus Hannover für das oben genannte Projekt bewarb, nahm sie dankenswerterweise auch ihr rumänisches Partnerinstitut mit ins Boot.
Nach einer langen, ermüdenden Reise war es dann soweit. Ein riesiger gepflegter Gutshof tat sich vor den erstaunten Augen der Besucher auf, an der Rezeption in dem von Säulen getragenen ehemaligen Kuhstall, wo sich auch der Speisesaal für locker 150 Personen befindet, bekamen die Teilnehmenden die Schlüssel für ihre Zimmer im ehemaligen Pferdestall. Die Workshops finden jeweils im Schloss oder in einem der weiteren Seminarräume statt, in den ehemaligen Verwaltungsgebäuden des Guts, die den quadratischen Innenhof beschließen, sind weitere Unterkunftsmöglichkeiten, ein Kindergarten, ein Sport- und ein Filmraum und natürlich die heutige Verwaltung untergebracht. Bei einer Besichtigung erfuhren wir von Frau Nelly Wacker, die das gesamte Programm für diese Veranstaltung vorbereitet hatte, dass es sich hierbei um das ehemalige Gut der Familie von Moltke handelt. Hier hatte sich die von Helmuth James von Moltke mitbegründete Widerstandsgruppe, die in der Zeit des Nationalsozialismus eine politisch-gesellschaftlichen Neuordnung nach dem Sturz der Hitler-Diktatur plante, mehrmals getroffen, bis Moltke Anfang 1944 verhaftet wurde. In den Gestapo-Unterlagen wird die Gruppe folgerichtig „Kreisauer Kreis“ genannt.
Unmittelbar nach dem Fall des Eisernen Vorhangs trafen sich am 12.11.1989 auf dem ehemaligen, nun verfallenen Gut Kreisau Bundeskanzler Kohl und Ministerpräsident Mazowiecki zu einer Versöhnungsmesse. Durch die von beiden Seiten bezuschusste Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit wurde das Gut renoviert und dort 1998 die internationale Jugendbegegnungsstätte der „Stiftung Kreisau für europäische Verständigung“ eröffnet. Durch die Begegnung, das Zusammensein, Zusammenarbeiten sollen junge Leute aus Ost und West sich kennenlernen, Vorurteile abbauen, im Idealfall Freundschaften schließen.
Dass diese Begegnungen nötig sind, zeigte sich auch dieses Mal. Die einen wussten nicht, wo Rumänien liegt, geschweige denn etwas über Land und Leute, die anderen wussten nichts über die polnische Geschichte und Kultur, viele nichts über berufsausbildende Schulen, alle hatten ein Päckchen an anfangs schamhaft verschwiegenen Vorurteilen mitgebracht. Dank der geschickt gewählten Workshopelemente wurde man aber schnell warm miteinander und erarbeitete sich gemeinsam auf spielerische Art neue (Er-)Kenntnisse zum Verhältnis der Weltbevölkerungsanteile nach Kontinenten, bzw. Subkontinenten, des Wohlstands und vor allem der Migrationsbewegungen. Jede der drei Gruppen präsentierte auch einen Überblick über historische und aktuelle Migration im jeweils eigenen Land. Kaum zu glauben, dass das alles innerhalb von zwei Tagen geschah, abgesehen von der Begrüßungsrunde am ersten Abend und der Evaluation am Abreisetag.
Denn am Mittwoch, zwischen den zwei vollen Arbeitstagen fand zur Auflockerung eine Fahrt nach Breslau/Wroclaw statt, wo die 34 Teilnehmenden und die fünf Begleitpersonen eine sehr kompetente Stadtführung erhielten, wobei wahrscheinlich leider nicht alle die mit subversivem Humor gewürzten Erklärungen vollständig erfassten. Die auf eine Burganlage des frühen 10. Jahrhunderts zurückgehende Stadt blickt auf eine bewegte Geschichte zurück und ist heute die viertgrößte Stadt Polens mit knapp 700.000 Einwohnern. Es ist auch eine junge Stadt, da an den Universitäten Breslaus etwa 120.000 junge Leute studieren. Nachdem in den 1980-ern eine oppositionelle Bewegung zum Teil in Zwergenkostümen Kritik am damaligen Regime übte und einige Zwerge (laut unserer Touristenführerin waren es ursprünglich fünf) daran erinnern sollten, wurde die Idee aufgegriffen, so dass heute angeblich 517 kleine, etwa zwei Spannen hohe bronzene Zwerge die Stadt bevölkern. Die beliebtesten erkennt man an den vom Streicheln der Vorübergehenden blank polierten Stellen. Während der Stadtführung wurde immer wieder speziell auf das Thema der Begegnung, die Migration, Bezug genommen und folgerichtig schloss der Besuch der Stadt mit einem Besuch des ukrainischen Begegnungszentrums. Denn in den letzten Jahren sind besonders viele Ukrainer nach Polen gekommen, etwa 2 Millionen, teils wegen der politisch unsicheren Lage in ihrem Heimatland, teils der besseren Arbeitsmöglichkeiten wegen oder auch um in Polen zu studieren, wo den Studierenden mehr Möglichkeiten offenstehen. In Breslau stellen sie inzwischen einen Anteil von etwa 10-15 Prozent an der Bevölkerung.
Am Freitag, dem 9. November, traten alle drei Gruppen, die an dem Projekt teilgenommen hatten, die zum Teil lange Heimreise per Bus, Zug, oder Kleinbus an, nicht ohne bei der Abschlussrunde bekräftigt zu haben, dass diese Art der Jugendbegegnung für ein tatsächlich geeintes Europa notwendig und hilfreich ist und mit der Hoffnung, dass die beteiligten Ausbildungszentren auch in Zukunft in solche Begegnungen eingebunden werden.
Ein besonderer Dank aller Teilnehmenden gilt dem deutsch-polnischen Jugendwerk für die großzügige Mitfinanzierung der Veranstaltung und Frau Nelly Wacker und Herrn Arkadiusz Zietek für die inhaltliche Gestaltung.
Sunhild GALTER