„Objektivere Einblicke gewährt“

Teile diesen Artikel

 

Streiflichter vom 18. Internationalen Literaturfestival Berlin

Die Schauspielerin Naomi Krauss, Moderator Ernest Wichner und die Autorin Gabriela Adameșteanu (v. l. n. r.) bei der Vorstellung des Buches „Verlorener Morgen“ (Originaltitel: „Dimineața pierdută“), das 2018 in der deutschen Fassung von Eva Ruth Wemme in der Reihe Die Andere Bibliothek erschienen ist. Foto: Christel WOLLMANN-FIEDLER

Erwin Piscator, der Berliner Theatermann von damals und der Berliner Architekt Fritz Bornemann, schauen noch manches Mal um die Ecke in der Schaperstraße und wundern sich über die Veränderung. Fritz Bornemann baute 1963 das „Theater der Freien Volksbühne“ und Erwin Piscator, der berühmte politische Theatermann, übernahm die Bühne. Veränderungen kommen und gehen, 2003 wurde aus dem Theatergebäude „Haus der Berliner Festspiele“. In diesem Jahr fand das 18. Internationale Literaturfestival Berlin in diesem modernen Theaterbau statt.

 

Ein Programm der Superlative lag bereit, die Seiten waren gespickt mit Künstlernamen aus der weiten Welt mit Themen jeglicher Art, Lesungen, Gespräche, Vorträge, Performances, Filme etc. bekannter und weniger bekannter Namen. Über die große Stadt Berlin verteilt an verschiedenen Orten fanden diese Veranstaltungen statt. Auch Jugend- und Kinderliteratur wurde vorgestellt. Gleich zu Beginn des Festivals war der neunstündige Film „Shoa“ von Claude Lanzmann zu sehen. Es sollte eine Hommage an Claude Lanzmann sein, der in diesem Sommer auf dem Cimitiere Montparnasse  in Paris beerdigt wurde.

Sechs rumänische Schriftsteller standen in dem über hundertseitigen Programm: Gabriela Adameșteanu, Catalin Dorian Florescu, Varujan Vosganian, 

Gyorgi Dragoman, Filip Florian und Cătălin Mihuleac. Aus Zeitgründen konnte ich nur drei Lesungen auswählen, der Würfel hatte mir dabei geholfen.

Eva Wemme hatte das Buch „Verlorener Morgen“ (Originaltitel: Dimineața pierdută“) von Gabriela  Adameșteanu, ins Deutsche übersetzt, Ernest Wichner, der ehemalige Leiter des Berliner Literaturhauses, moderierte das Gespräch mit der Schriftstellerin. In diesem Frühjahr war das Buch bereits auf der Leipziger Buchmesse vorgestellt worden. Gabriela Adameșteanu wurde 1942 in Târgu Ocna geboren, wuchs in Pitești auf und studierte in Bukarest rumänische und französische Literatur. Über Marcel Proust schrieb sie 1965 ihre Examensarbeit. Als Journalistin, Chefredakteurin und als Übersetzerin aus dem Französischen arbeitet sie, 1975 erschien in Rumänien ihr erster Roman, weitere folgten. Das oben erwähnte Buch erschien 1983 bereits in Bukarest, 1987 kam das Thema auf die Theaterbühne. Zensiert wurde der Text des Romans, eine halbe Seite musste aus dem Manuskript entfernt werden. Der Text über Kriegsgefangene in der Sowjetunion, über Gefängnissysteme und politische Häftlingen war von der Zensur nicht gewünscht. Das Manuskript hatte Adameșteanu aufbewahrt und nach Ceaușescus Tod, nach der Auflösung der kommunistischen Diktatur, konnte die damals gestrichene halbe Seite wieder eingefügt werden und die 6. Auflage des Buches mit dem originalen Text wurde gedruckt. Keinen Satz, kein Wort hatte die Autorin hinzugefügt. Über den Inhalt, über die unterschiedlichen Menschentypen, die teils sehr sarkastischen, bösartigen Personenbeschreibungen der vergangenen Bukarester Gesellschaft, über die verschiedenen gesellschaftlichen bürgerlichen Schichten, erfahren wir. Auch erfahren wir, dass das Buch in Rumänien ein Kultbuch wurde und eigentlich keine direkte Handlung hat, aus Puzzleteilen bestehen würde und das pralle Leben beschreibt. Frauen wurden beschrieben, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Wir hören von Adamesteanu, dass die Mutter eine romantische Frau gewesen ist und sie, die Schriftstellerin, den Erzählungen der Mutter und der Tante gelauscht hat. Fantastisch gelesen wurden Textteile des Buches von der Schweizer Schauspielerin Naomi Krauss, die heute in Berlin wohnt.

Am selben Abend, als Fortsetzung der Literaturvorstellungen, saß Catalin Dorian Florescu mit seiner Moderatorin Nicole Steiner auf dem Podium. Er nahm seine vielgeliebte Mütze ab und legte sie neben sich auf den Boden. Nicole Steiner ist Berlinerin, hat eine österreichische Mutter, einen Ehemann aus Siebenbürgen, lebt mit Ehemann und Kindern in Zürich und arbeitet dort für den Rundfunk. Mit Florescus Leben und seinen literarischen Texten hat sie sich sehr intensiv befasst, stellte hervorragende Fragen. Florescu selbst wollte keine Moderatorin, hätte lieber alleine gesprochen, ließ er uns gleich zu Anfang wissen, doch  Nicole Steiner, die sehr Engagierte und Wissende, war eine gleichwertige Gesprächspartnerin. 

Catalin Dorian Florescu kam mit fünfzehn Jahren in die Schweiz, wurde 1967 in Temeswar geboren. Psychologie und Psychopathologie studierte er an der Züricher Universität, arbeitet mit Drogenabhängigen und wurde 2001 freier Schriftsteller. Seine Kindheitsjahre im Kommunismus in Rumänien, die Flucht mit den Eltern, thematisiert er in vielen Geschichten und erzählt, dass er den Zauber der Kindheit in die Schweiz mitgenommen hat. Kinderlieder, Volkslieder von damals sind zur nostalgisch verklärten Heimat geworden. Alle waren in Rumänien im gleichen Gefängnis. Mit den Rumänen teilt er nicht die Gegenwart, nur seine Kindheitsjahre. Die helvetische Kindheit schließt sich an, eine Heimat gibt es nicht, zwei Zuhause, eine mitteleuropäische und eine westeuropäische prägen ihn und seine Literatur. Eine große Chance der Weiterentwicklung bot ihm der Westen, „Die Schweiz fiel uns zu, wie ein Lottogewinn“ meint der Schriftsteller, sozusagen eine „Lotterieheimat“. Schreiben macht ihn glücklich, das Recherchieren ebenfalls. In einem Satz fallen die Namen New York und Donaudelta… Florescu erzählt viel, der Abend ist lang… Aus seinen Büchern „Der Nabel der Welt“ und Der Mann, der das Glück bringt“ liest Catalin Dorian Florescu selbst. Gespannt hören wir zu.

Meine dritte Auswahl ist die Buchvorstellung „Oxenberg & Bernstein“ von Cătălin Mihuleac aus Jassy. Sehr neugierig bin ich auf das Gespräch mit dem Übersetzer seines Buches, Ernest Wichner und ihm, dem Schriftsteller, Cătălin Mihuleac. Wichner hat das Buch übersetzt, in Kurzfassung erzählt er den Inhalt, erzählt über den galoppierenden Antisemitismus während des Antonescu-Regimes in Rumänien, der das Ausrotten der Juden anordnete. 13.000 jüdische Bürger wurden im Juli 1941 in Jassy von ihren Nachbarn, der rumänischen Miliz und den deutschen Nazis, auf Straßen, auf Wiesen und in den Wäldern erschlagen und erstochen, andere steckte man in Viehwaggons und fuhr sie bei brütender Hitze hin und her, bis sie verreckten. Von Studenten forderte die Pathologie der Universität, jüdische Leichen mitzubringen zum Sezieren. Sie durften ihre pathologischen Kurse nicht an christlichen Leichen ausüben. 

Schlimmes ist den Juden in Rumänien wiederfahren, doch bis heute fand keine Aufarbeitung dieser schrecklichen Morde statt. Mihuleac stellte in einem der wichtigsten Gymnasien in Jassy fest, dass die Schüler nichts über die Shoa wussten, nichts darüber gelernt hatten. 100.000 Einwohner hatte Jassy, die Wiege der rumänischen Kultur, in den dreißiger Jahren, davon 50.000 jüdische Bewohner, heute sind es noch zwei- bis dreihundert. Das Holocaustthema wird nach wie vor unter den Teppich gekehrt. Wissenschaftliche Treffen und Diskussionen finden hin und wieder statt, doch dringen diese Gespräche nicht nach außen. Wir erfahren von Mihuleac, dass er in seinen reiferen Jahren eine Affinität für das jüdische Volk entwickelte. Mit Überlebenden des Holocaust sprach er, wie ein Historiker durchstöberte er Archive. Fiktive, reale und Mischfiguren erscheinen in seinem Buch, man kann sie verwechseln, doch das ist der Zauber der Literatur, meint der Schriftsteller. 

Sehr fantasievoll, flapsig, leichtfüßig, teils komisch, oft ironisch und modern ist die Sprache des Buches. Junge Menschen sollen das Buch lesen und erfahren, was geschah.

Beachtet werden er und sein Buch in Rumänien kaum. In den wenigen rumänischen Rezensionen wird ihm Feindseligkeit entgegengebracht und der Inhalt als belanglos beschrieben, eine alte jüdische Zeitzeugin gar beschimpfte ihn als „Nestbeschmutzer“. In den deutschsprachigen Medien hingegen wird er sehr beachtet und die Beschreibungen sind sehr gut. Eine deutsche Zeitung besuchte ihn sogar in Jassy, um mit ihm ein Gespräch zu führen und die Umgebung kennenzulernen in der er lebt und schreibt. Zum Internationalen Literaturfestival in seiner Heimatstadt wird er nicht eingeladen.

Der Berliner Schauspieler, Regisseur und Synchronsprecher Matthias Scherwenikas las aus dem erwähnten wichtigen Buch von Mihuelac sehr professionell, sehr eindrucksvoll den ins Deutsche übersetzten Text.

In Jassz, in der Region Moldau, wurde Cătălin Mihuleac 1960 geboren, ging dort zur Schule, studierte u.a. Geologie an der Universität seiner Heimatstadt und arbeitete Jahre in der Erdölförderung. 1991 wurde er freier Journalist und Redakteur, promovierte 2009 in Literaturwissenschaften ebenfalls an der Universität Jassy. 1996 bis heute sind zahlreiche Bücher von ihm erschienen, 2018 zur Leipziger Buchmesse das ins Deutsche übersetzte „Oxenberg & Bernstein“.

Die Bücher der erwähnten Schriftsteller sollte man in Rumänien und die Übersetzungen in Deutschland lesen. Über eine andere Kultur, über die politische Vergangenheit und Gegenwart des Landes erfahren wir, ihre Ansichten und Meinungen geben uns objektivere Einblicke in das tägliche Leben ihres Landes, als es unsere deutschsprachigen Medien tun.  

Christel WOLLMANN-FIEDLER

Veröffentlicht in Kultur, Persönlichkeiten.