Die Pusteblume

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Ausgabe Nr. 2577

HZ-Sonderpreis für Kreativität (III)

Bei der Landesphase des Schülerwettbewerbs im Fach Deutsch als Muttersprache hat die Hermannstädter Zeitungfür jede Klasse einen Sonderpreis für Kreativität vergeben. Außer einem Jahresabonnement, einer Jubiläumsmedaille, einem T-Shirt und einem Buch gehört zum Preis, dass die prämierten Aufsätze in der HZ veröffentlicht werden.

In der aktuellen Ausgabe lesen Sie den Aufsatz der Schülerin Ioana Țincu (10. Klasse, Brukenthalschule Hermannstadt) zu dem Zitat von Kurt Tucholsky: Erfahrungen vererben sich nicht – jeder muss sie allein machen. Jeder muss wieder von vorn anfangen.“

„Es gibt Sachen, auf die man sich einfach nicht einlassen kann. Martin Müller.“ Seine in schwarzer Tinte eingetauchte Feder kratzte diese dreizehn Wörter auf der letzten Seite des Buches, das ich auf Französisch übersetzt hatte. Sie sind auch noch heute lesbar. Ich taste den grünen Einband, ähnlich den Wänden der Stube des Lehrer Müllers, ab. Ich konnte seine französische Abstammung erkennen, kurz nachdem er mich gegrüßt und mir einem Earl Grey angeboten hatte, der mir den würzigen Duft des Bergamottöls durch seinen deutlich sichtbaren Dampf schickte. Ich schaute dem Franzosen in die mandelförmigen Augen, so dass ich das Buch im grünen Einband auf dem Tisch lassen und weglaufen hätte können. Er bemerkte meine Angst und murmelte: „Ich werde die Übersetzung aufmerksam durchlesen und die kleinen Fehler korrigieren.“

Plötzlich fällt ein Blatt Papier aus den Seiten des Buches zu Boden. Es wurde einmal vor Jahren, zu einem Knäuel zusammengeknüllt, wie alle anderen zerdrückten Blätter, die rundherum des Schreibtisches vom Lehrer lagen. Ich war immer neugierig, was Martin Müller auf diesem Papier niederschrieb und als ich mich einmal von ihm verabschiedete, versteckte ich ein Knäuel in der Jackentasche. Kaum ging ich die alte Treppe hinunter, griff ich nach dem Papier und las die fünf Verszeilen, die darauf mit schwarzer Tinte geschrieben wurden. Warum hatte mir Martin nicht gesagt, er sei Dichter? Der Grund ist mir auch bis heute unbekannt geblieben… Abends trafen wir uns in seiner grün gemalten Stube. Auf dem Tisch tropfte eine dicke, wächserne Kerze. Ich saß an einer Ecke des Tisches, er an der entgegengesetzten. Während Schillers Trauerspiele mir unmöglich schienen, auf Französisch übersetzt zu werden, war für ihn jedes Gedicht der Anfang eines neuen Werkes. Ich hatte keine Angst mehr…

Manchmal starrte einer von uns den anderen an, ohne ein Wort auszustoßen. Jeder war in seiner eigenen Welt versunken, in der es nichts Wertvolleres gab, als das, was ihn wirklich glücklich machte. Manchmal sprachen wir einfach über Erfahrungen. „Dein Vater hat auch literarische Bücher auf Französisch übersetzt, deren Fehler ich ganz oft verbessern musste.“, wisperte Martin Müller. Meine feuchten Augen sanken auf die Brust. Ich wusste das nicht, ich hatte meine Eltern nie kennengelernt. Vielleicht kannte ich mich selber auch nicht und werde mich nie kennen. „Das Leben ist wie eine Pusteblume, wenn die Zeit gekommen ist, muss jeder für sich alleine fliegen. Der Mensch erlebt vieles und betrachtet die kleinen Sachen der Welt als wertlos. Trotzdem versteht er später, dass jedes Kleine die Essenz der großen Sachen im Leben ist. Er beginnt jede Kleinigkeit zu entwickeln und eine kreisförmige Bahn ringsherum zu ziehen, bis er seine eigene Göttlichkeit erreicht, in der sich das Glück verbirgt. Denn ist das Glück nicht ein Fliegen, ein Vorwärtsstürzen und Getragen werden? Gehört nicht jede Erfahrung, die niemand einem hinterlassen kann, da jeder sie allein machen muss, zum Glück?“, fuhr der Franzose fort. Einen Atemzug lang konnte ich den Sinn seiner Worte nicht erschließen. Ich schloss die Augen und riss sie wieder auf. Martin Müller, den ich nicht mehr als Lehrer betrachtete, hatte Recht! Obwohl mein Vater seine Übersetzungen auch einmal von ihm korrigiert hatte, musste ich wieder von vorn anfangen. War das nicht auch eine Erfahrung, die mich wirklich glücklich machte? Ich stecke das zerdrückte Blatt Papier irgendwo zwischen den Seiten des Buches mit dem grünen Einband. Seine Geschichte wird zu einem Ende kommen, kurz nachdem ich es geschlossen haben werde. Dasselbe geschah auch Martin Müller, nachdem ein sanfter Windhauch die leichten, in Form einer Kugel auf dem Stiel zusammensteckenden Samen der Pusteblume diesmal in den Armen des Todes weggetrieben hatte…

Ioana ȚINCU

Veröffentlicht in Aktuelle Ausgabe, Schule.