„Die Zeitung war mein halbes Leben“

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Fünfunddreißig Jahre mit der Hermannstädter Zeitung / Von Horst WEBER

Ausgabe Nr. 2567

Horst Weber, Jahrgang 1944, von 1970 Redakteur dieser Zeitung, zwischen 1996 und 2005 ihr Chefredakteur und als Vorsitzender der gleichnamigen Stiftung auch ihr Herausgeber, an dem Apple-Macintosh-Rechner, mit dem die Redaktion 1997 aus Mitteln des Auswärtigen Amtes durch Vermittlung von Konsul Arnulf Braun ausgestattet worden war.        
Foto: HZ-Archiv

Seinen Einstand als Redakteur der Hermannstädter Zeitung gab der 1944 in Agnetheln geborene Germanist Horst Weber 1970 mit einer „launigen Besprechung“ eines Bunten Abends am Hermannstädter Staatstheater. Von 1996 bis 2005 lenkte er als erfahrener Journalist die Geschicke der Zeitung. Horst Weber lebt heute in Bielefeld/Deutschland und berichtet im Folgenden über fünfunddreißig Jahre in der Redaktion der Hermannstädter Zeitung (die zwischen 1971 uns 1989 den Namen Die Woche tragen musste).

 

Gott, wie waren wir damals allesamt jung, als ich zu Sommerbeginn 1970 als Redakteur zur Hermannstädter Zeitung stieß! Der Jüngste war gerade mal zwanzig, der Älteste knapp über die vierzig. Ich, mit meinen 26 Jahren, rangierte irgendwo unterhalb der Mitte.

Meinen Einstand als bestallter Redakteur gab ich mit einer launigen Besprechung der jüngsten Produktion der Hermannstädter deutschen Bühne, einem Bunten Abend, an dem oder in dem die Darsteller reichlich nacktes Fleisch gezeigt hatten. Ich betitelte sie frech „Säxysche Schlagerparade“ und sparte auch sonst nicht mit spitzen Bemerkungen. War’s der Titel oder der Inhalt oder beides, jedenfalls stand am nächsten Morgen eine wutschnaubende Dramaturgin beim Chefredakteur Ewalt Zweier auf dem Teppich und wollte wissen, wer der Kerl sei, der sich erdreistet habe, so über die hehre Kunst der Mimen zu spotten. – Von Zweier habe ich übrigens das journalistische Handwerk gelernt, wofür ich ihm bis heute dankbar bin.

Solcherart als Kunstkenner legitimiert, bekam ich den verwaisten Stuhl und Schreibtisch der Kulturressortleiterin Astrid Connerth zugewiesen, die es kurz davor vorgezogen hatte, die sozialistische Freiheit in Rumänien zugunsten der kapitalistischen Knechtschaft in Deutschland aufzugeben. Meine damaligen Büro- und Feuilletonkollegen waren Walter Engel, der die Ressortleitung übernommen hatte und an einem Tag der Woche auch die Seite „Ausland“ redigierte, und Elke Sigerus, zuständig insbesondere für die bildende Kunst.

 

Diese Karikatur aus dem Archiv der Hermannstädter Zeitung zeigt die Redakteure der Gründerjahre: Oberste Reihe (v. l.): Chefredakteur Ewalt Zweyer, Felix Caspari (Redaktionssekretär), Horst Buchfelner (Fotoreporter), 2. Reihe: Alfred Hatzack (Industrie und Parteiarbeit), Adolf Heltmann (Sport), Astrid Wiesenmayer geborene Connerth (Kultur), 3. Reihe: Hermann Schobel (Landwirtschaft), Walter Engel (Kultur, Ausland), Gerhild Buchfelner (damals Gerhild Antoni, Gesellschaft und Jugend), Horst Breihofer (Information und Gesellschaft), 4. Reihe: Inge Ungureanu (Daktylografin), Dieter Göllner (Lokalnachrichten), Karl Drotleff (Gesellschaft, später Landwirtschaft).                        
Zeichnung: Karl Nikolaus VOIK

Jederzeit einsatzbereit

Wir waren jung, begeisterungsfähig, jederzeit einsatzbereit – der Leitspruch der Redakteure lautete: „Zuerst die Zeitung!“ – und vor allem: Wir waren ein gutes und solidarisches Team. Letzteres äußerte sich am augenfälligsten in den gemeinsam gefeierten Geburtstagen. Dazu musste der Gefeierte den Rohstoff für die belegten Brötchen liefern und auch – solange wir Dienstwagen und Schofför hatten – ein 25-Liter-Fäßchen Bier aus der Zoodter Brauerei herbeibringen. Es wurde im Obergeschoß auf einen Schreibtisch gestellt und vom Kollegen Karl Drotleff, der dafür die nötigen Utensilien besaß, fachgerecht „angeschlagen“. Außerdem wurde jeden Sommer bei Felix Caspari, unserem Chef vom Dienst, ein gemeinsames Gartenfest veranstaltet, das nachmittags begann und bis in den späten Abend andauerte. (Auf dem Papier hieß sein Posten übrigens Generalsekretär der Redaktion; später wurde der „General“ gestrichen – es durfte nur einen Generalsekretär in Rumänien geben!)

1970 war (noch) ein Jahr des Aufschwungs und der relativen Liberalität, die mit der 1965 erfolgten Wahl Ceaușescus zum Generalsekretär der (zurückgetauften) kommunistischen Partei (sie hatte davor Arbeiterpartei geheißen) begonnen hatten. Mit ihm war frischer Wind ins erstarrte System gekommen. Gräueltaten unter seinem Vorgänger Gheorghiu-Dej wurden öffentlich gemacht und die Verantwortlichen, darunter der frühere Innenminister Drăghici, aber auch andere Weggenossen Dejs, aus ihren Ämtern verdrängt. Unschuldig Verurteilte, wie der einst prominente Salonkommunist Pătrășcanu, aber nebenher auch die rumäniendeutschen Autoren Birkner, Bergel, Aichelburg, Scherg und Siegmund, die 1958 zu schweren Haftstrafen verurteilt worden waren, wurden rehabilitiert. Der sozialistische Realismus sowjetischer Prägung wurde über Bord geworfen, in Kunst und Literatur war plötzlich Stilvielfalt möglich, bisher verpönte Autoren wurden übersetzt und verlegt. Ceaușescu beliebte es damals, sich bei seinen häufigen „Arbeitsbesuchen“ mit sogenannten Kunst- und Kulturschaf-fenden zu umgeben, mit denen er sich gelegentlich auch im größeren Kreis traf, so am 3. Juli 1968 mit deutschen Intellektuellen, die ihm die Sorgen, Nöte und Wünsche der deutschen Bevölkerung vortrugen. Neue Zeitungen, darunter die Hermannstädter Zeitung, und neue Verlage wurden gegründet, etwa der Kriterion-Verlag, der ausschließlich für die „mitwohnenden Nationalitäten“ da war, die nun auch wieder ihre eigenen Traditionen pflegen durften. Die Verwaltung und die Gebietseinteilung des Landes wurden reformiert, statt der Regionen und Rayons gab es wieder die alten județe. Das Land modernisierte und entwickelte mit westlicher Technik und westlichem Know-how seine Industrie und stellte Autos her, die einiger-maßen erschwinglich waren und auf die man zwar auch einige Jahre, aber nicht durchschnittlich siebzehn wie in der DDR, warten musste. Außerdem konnte man reisen, zwar nicht jeder wann und wohin er wollte, aber man durfte es zumindest theoretisch. Und in den Lebensmittelläden, das kam jedermann zugute und jeder konnte es sehen und mit Händen greifen, herrschte fast so etwas wie Überfluss.

Dass all diese Maßnahmen eine Captatio Benevolentiae großen Stils waren, um die Gunst des Volkes zu erringen und die persönliche Macht zu festigen, merkten wir nicht. Wie auch niemand gewahr wurde, dass Ceaușescus flammende Rede am 21. August 1968 gegen den gewaltsamen Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in die Tschechoslowakei, womit dem „Prager Frühling“ und damit jeglicher Hoffnung auf einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ der Garaus gemacht wurde, nur seiner Angst entsprungen war, demnächst selbst von den Sowjets beseitigt zu werden. Aber für einige Zeit hatte ihm dieser Auftritt vor mehr als hunderttausend Menschen sowohl im Inland als auch im westlichen Ausland einen enormen Popularitätszuwachs beschert.

Derweil erfreuten wir uns der uns gewährten kleinen Annehmlichkeiten und Freiheiten und ahnten nicht, wie kurzlebig sie sein würden. Die Zeitung erschien damals in zwölf Seiten im sogenannten Berliner Format. Sie war also etwas kleiner als der Neue Weg und größer als die in A3-Größe erscheinende „Karpatenrundschau“. Die höchste Auflage, die sie je erreichte, waren 10.500 Exemplare. Die Redaktion hatte 18 oder 19 Planstellen, die jedoch nicht immer alle besetzt waren. Das Themenangebot war breit gefächert, jedoch konnten nicht alle Bereiche mit den eigenen Kräften abgedeckt werden – dafür mussten auswärtige Mitarbeiter aufgeboten werden, etwa für die Spezialbereiche Geschichte, Volkskunde oder Musikkritik.

Selbstverständlich durfte die sogenannte Parteiarbeit, also die politische Linienpflege in den Parteiorganisationen bzw. die Anweisungen, die von den übergeordneten Stellen kamen, nicht aus der Zeitung fehlen; zuständig dafür war der Kollege Alfred Hatzack. Er hatte in der Kesselschmiede der Independența-Werke gearbeitet, und die Leute dort galten in Hermannstadt als eine Art „Vortrupp der Arbeiterklasse“. Neben dem Chefredakteur war er in den ersten HZ-Jahren der Garant der ideologischen Linientreue, doch schon bald darauf gab er Partei und Vaterland auf und ließ sich in Deutschland nieder.

Parteiarbeit und Wirtschaftsfragen belegten regelmäßig eine ganze Zeitungsseite. Außer Hatzack waren für diese Themenbereiche Karl Drotleff und der Agronom Hermann Schobel zuständig. Gerhild Antoni, etwas später verheiratet mit unserem Fotoreporter Horst Buchfelner, war für die Sparte Gesellschaftsthemen verantwortlich, zu der Reportagen und Berichte auch Paul Thal und etwas später Rolf Maurer beitrugen. Für den Lokalteil mit reichlich Nachrichten sorgten in erster Linie Horst Breihofer als Abteilungsleiter und Dieter Göllner, doch war dieser Bereich – wie auch alle anderen – nicht so genau abgezirkelt: Jedermann in der Redaktion, der eine mitteilenswerte Information aufschnappte, steuerte sein Teil bei. Den Sport betreute Adolf Heltmann und nach seinem krankheitsbedingten Weggang der Redaktionssekretär Franz Bretz, später Gerhard Bonfert. Heltmann war in den Anfangsjahren auch für die Leserbriefe zuständig.

Eine erste Großtat

Großer Wert wurde auf Kultur und auf Heimatkunde gelegt. Die Kulturseite durfte in keiner Ausgabe fehlen, und eine Heimatkundeseite gab es anfänglich in fast jeder. Da man sich unter Ceaușescu rumänischerseits vermehrt mit der eigenen Nationalgeschichte zu beschäftigen begonnen hatte, war es nur natürlich, dass auch die Minderheiten sich ihrer Geschichte zuwandten, zumal diese in den Lehrbüchern und im öffentlichen Diskurs unterschlagen wurde. Eine erste Großtat (und wahrscheinlich die einzige der HZ im Bereich Heimatkunde) war die achtteilige Artikelfolge von Thomas Nägler und Carl Göllner „Aus der Geschichte der Siebenbürger Sachsen“, die zwischen November 1973 und Mai 1974 erschien. Ihr waren ein-schlägige Aufsätze von Harald Krasser, Gustav Gündisch, Michael Kroner, Gernot Nussbächer und anderen vorangegangen. Alle waren sie als Handreichung für die Geschichtslehrer an den deutschsprachigen Schulen gedacht. Ich hatte die Ehre, diese Folge zu betreuen und Göllner die Gänsefüße vor und hinter die Passagen zu setzen, die er aus den Geschichtswerken der beiden Teutsch, Vater und Sohn, und von Müller-Langenthal übernommen hatte, ohne sie als Anleihen zu kennzeichnen. (Später habe ich seine Arbeitsmethode genauer in Augenschein nehmen können: Neben seiner Sekretärin türmten sich die mit Lesezeichen gespickten Bücher diverser Autoren, zwischen denen Zettel mit verbindenden Worten und Sätzen steckten).

Fotoreporter Fred Nuss (links) und Chefredakteur Ewalt Zweyer bei einem Redaktionsfest 1968.                                                         Foto: HZ-Archiv

„Kleine Kulturrevolution“

In Rumänien dauern Wunder bekanntlich drei Tage. Ceaușescus liberale Phase war eine Ausnahme: Sie dauerte fünf Jahre. Aber dann war endgültig Schluss damit. Der Mann zeigte, was er im Grunde seines Wesens war: ein waschechter Stalinist. Mitte 1971 war er von einer Besuchsreise u. a. durch Maos China und Kims Nordkorea zurückgekehrt und hatte „Ideen“ mitgebracht, und am 6. Juli rief er mit der Verkündung der sogenannten Juli-Thesen seine eigene kleine Kulturrevolution aus: mehr Propaganda, mehr Indoktrination, mehr Patriotismus, mehr Gängelung der Kunst- und Kulturszene durch die Partei. Als ich tags darauf die Parteizeitung „Scînteia“ in die Hand nahm, war ich wie vor den Kopf geschlagen: Das war ein Rückfall in den stalinistischen Diskurs der fünfziger Jahre! Auch die Hermannstädter Zeitung blieb davon nicht verschont. Ich erinnere mich an einen Disput mit meinem Chef etwa zur selben Zeit, es ging, wenn ich nicht irre, um meinen Abschlussartikel zu einer Leserdiskussion, die ein Essay der Schriftstellerin Bettina Schuller über Kunst und Kitsch ausgelöst hatte. Ich musste mit ihm um nahezu jeden Satz, den ich geschrieben hatte, feilschen und war nach diesem unerwarteten Kampf um den gewohnten lockeren Stil völlig erschöpft. Später wurden wir vorsichtiger und versteckten mehr zwischen die Zeilen. – Die „Minikulturrevolution“ stand auch am Beginn eines im Laufe der Jahre bis zur Schamlosigkeit gesteigerten öffentlichen Kults um Ceaușescus Person und den seiner Frau. Sie ließ sich als „Akademiemitglied Doktor Ingenieur, Wissenschaftlerin von Weltruf“ bezeichnen – mit gerade mal fünf absolvierten Volksschulklassen (worüber sich auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs Oskar Pastior mit dem für seine deutschen Leser dunklen Wortgebilde „akadring“ lustig machen sollte: birne mischelene / akadring rotokol).

Das nächste Ärgernis ließ nicht lange auf sich warten, und es traf in erster Linie die deutsche und die ungarische Minderheit. Ceaușescu hatte mal wieder einen seiner unzähligen Arbeitsbesuche absolviert, diesmal im Szeklerland, und dort waren ihm angeblich die ungarischsprachigen Ortsschilder und Gebäudeaufschriften sauer aufgestoßen, worauf er in seiner angeblich unendlichen Weisheit kurzerhand den Gebrauch der muttersprachlichen Ortsnamen in der Öffentlichkeit verbot. Auch die „Hermannstädter Zeitung“ musste sich dieser nie schriftlich ergangenen Anordnung fügen und hieß ab der Ausgabe Nr. 201 vom 20. Oktober 1971 und bis zur Nr. 1148 vom 15. Dezember 1989 Die Woche. Aus Hermannstadt wurde Sibiu oder „die Stadt am Zibin“, aus Kronstadt Brașov oder „die Stadt unter der Zinne“, und die Hermannstädter nannten wir redaktionsintern scherzweise „Sibioten“, während wir und andere uns als „Wöchner“ bespöttelten. Wir empfanden das Ortsnamenverbot als eine Demütigung sondergleichen und standen damit nicht allein: Die Redaktion wurde mit Briefen empörter Leser überhäuft. Sie wurden nicht veröffentlicht, das Thema war tabu.

Trotz dieser unseren Spielraum einschränkenden Verfügungen – oder ihnen zum Trotz – waren wir weiterhin bemüht, eine lesbare Zeitung herzustellen. Wir gaben zwar dem Kaiser, was des Kaisers ist, boten aber auch Lesestoff für möglichst viele echte Leserinteressen und Leserschichten. Unterhaltsames durfte nie fehlen, und mit der Schere holten wir „Wissenswertes“ aus der weiten Welt in unser Provinzblatt. Auch eine Seite für die jungen Leser gab es regelmäßig.

Im Frühjahr 1974 wechselte die Hermannstädter Zeitung Druckort und Druckverfahren: Sie zog aus der einstigen „Krafft & Drotleff“-Druckerei in der Heltauergasse in die neue Druckerei an der Alba-Iulia-Straße und stieg vom Bogendruck auf Rotationsdruck um. Das neue Druckverfahren machte eine Schrumpfung der Seitengröße auf A3-Format nötig. Etwa zur gleichen Zeit war uns von einem Abgesandten aus Bukarest eröffnet worden, dass es für den rumänischen Staat profitabler sei, unbedrucktes Papier ins Ausland zu verkaufen statt bedrucktes im Inland. Die Folge: Die Zeitung wurde gleichzeitig auch im Umfang geschrumpft – auf acht Seiten, und dabei ist es (leider!) bis zum heutigen Tag geblieben. Das machte auch eine inhaltliche Umstellung erforderlich; das neue Konzept klügelten Rolf Maurer und ich zusammen aus. (Die rumänischsprachige Tribuna Sibiului traf es härter: Aus der Tageszeitung wurde eine Wochenzeitung, und sie musste Journalisten entlassen.)

In diesem Jahr wurde auch der Chefredakteur ausgewechselt. Ewalt Zweier musste gehen, angeblich weil jemand aus der Verwandtschaft seiner Frau um die Ausreise angesucht hatte. Sein Nachfolger wurde Josef „Sepp“ Eckenreiter, der schon bei der Kronstädter Volkszeitung, der Vorgängerin der Karpatenrundschau, gearbeitet hatte und nachher in Hermannstadt Parteifunktionär war – ich habe ihn als aufgeschlossenen, toleranten Menschen erlebt, der vieles auf seine Kappe nahm und ein offenes Ohr und oft eine praktische Lösung für die Bedürfnisse seiner Mitarbeiter hatte.

Die Zensur

Ende Juni 1977 wurde die Zensurbehörde, die berüchtigte Direcția Presei și Tipăriturilor, aufgelöst, aber nicht auch die Zensur – sie wurde in die Verlage und Redaktionen verlegt. Der Herausgeber der Hermannstädter Zeitung, also das Kreisparteikomitee, sowie der Chefredakteur und sein Stellvertreter hatten darüber zu wachen, dass nicht einmal ein Komma das Regime und das Vertrauen in die Partei und ihren „Führer“ (conducător), wie er sich titulieren ließ, ins Wanken brachten. Das System stand ohnehin nicht zur Debatte, Kritik daran war nicht erlaubt, höchstens an Einzelaspekten der Verwaltung, etwa Mängeln in der Versorgung, im öffentlichen Nahverkehr und dergleichen. Darüber hinaus gab es in jeder Redaktion, auch der unseren, ein Heftlein mit einer Liste der verbotenen Themen; sie wurde im Stahlschrank aufbewahrt und laufend aktualisiert. Nach der Wende hatte ich sie einmal in der Hand. Leider sind mir nur noch zwei Einträge gegenwärtig: Nicht schreiben durfte man über eine bestimmte Abteilung des Bukarester Victor-Babeș-Krankenhauses – hier waren die HIV- und Aids-Patienten untergebracht, die es in Rumänien nicht geben durfte –, und über Rumäniens Kupferimporte aus dem unter dem Militärdiktator Pinochet 1973–1988 weithin geächteten Chile.

Manchmal konnte man die Vorgaben der Zensur auch umgehen. So durfte man zum Beispiel ausgesiedelte oder geflohene Autoren nicht mehr in der Öffentlichkeit erwähnen. Dieser Regelung war ein Teil des ursprünglichen Inhalts von Emmerich Reichraths Ende 1984 erschienenem Buch „Reflexe II“, zum Opfer gefallen. Aus der Sammlung von Aufsätzen und Rezensionen zur neueren rumäniendeutschen Literatur fehlten eine Reihe wichtiger Autoren und Kritiker. Um das Buch in der Zeitung vorstellen zu können, die Abwesenden aber nicht verschweigen zu müssen, versuchte ich einen Trick: Ich paraphrasierte die Titel ihrer Bücher. Das klang dann so (zum besseren Verständnis habe ich die Titel kursiv gesetzt und die Namen in Klammern hinzugefügt): „Wie hieß er doch, der den Pontus Euxinus ins umbrische Licht tauchte? (Wolf Aichelburg) Und der andere, der die Wetterberichte eines Privatmannes zur Entwöhnung seiner Leser herausgab? (Werner Söllner) Und der dritte mit seinen lyrischen Siebensachen? (Rolf Bossert) Und jener vierte, der uns beinahe jedes Jahr mit einem Band beglückte und dann sein Gesicht an den Nagel hing, ehe er grollend von uns schied?“ (Nikolaus Berwanger, ich häng mei gsicht net an de nagel) In diesem Stil ging es weiter. Und niemand hat Anstoß genommen.

Zurück zum Jahr 1977, ein Schicksalsjahr, nicht nur für die Medien. Es war auch das Jahr des Lawinenunglücks im Buleakessel (17. April), bei dem 23 Menschen, sechzehn Schüler der Brukenthalschule und sieben Erwachsene, meist Lehrer an dieser Schule, den Tod fanden. Eines der Opfer war die 16jährige Tochter unseres einstigen Chefredakteurs Zweier. Das Geschehnis wurde von der Presse landesweit totgeschwiegen; die HZ war das einzige Medium, das eine zweispaltige Nachricht darüber bringen durfte. Und es war das Jahr eines schrecklichen Erdbebens (4. März), das besonders in Bukarest schwere Schäden verursachte und über 1.500 Menschen das Leben kostete. Damals reifte in Ceaușescu die Idee, die Hauptstadt von Grund auf umzubauen und sich mit dem „Haus des Volkes“ – heute Sitz der beiden Parlamentskammern sowie anderer Einrichtungen -, mit von Ministerialgebäuden gesäumten breiten Straßen für die Volksaufmärsche zu seiner Huldigung ein Denkmal für die Ewigkeit zu setzen. Die Zerstörungen, die dieser gigantomanische Plan nach sich zog, waren noch gewaltiger als die Folgen des Erdbebens: Etwa 7.000 Häuser mit etwa 40.000 Wohnungen wurden abgerissen, um Baufreiheit zu schaffen, und ihre Bewohner in Plattenbauten zwangsumgesiedelt, ein Dutzend Kirchen, drei Synagogen und ein Krankenhaus mussten ebenfalls weichen – etwa ein Fünftel von Bukarest wurde eingeebnet. Und seine Pläne zur „Systematisierung“ der Städte und Dörfer, wogegen in den achtziger Jahren weltweit protestiert wurde, haben ihren Ursprung auch damals gehabt. In Hermannstadt sollte, wie ich aus sicherer Quelle erfahren hatte, die ganze Ostseite des Großen Rings bis hinunter zur Ursulinenkirche, also das ganze Häuserdreieck zwischen Sporer- und Reispergasse, abgerissen werden, um Raum für grandiose Aufmärsche zu schaffen. Das konnte verhindert werden, nicht aber der Abriss eines anderen Teiles der denkmalgeschützten Altstadt (Knopf- und Annagasse und ein Teil der Salzgasse sowie 90er Kaserne). Genaues über derlei Pläne durfte selbstverständlich in keiner Zeitung stehen, es hätte zu Unruhen in der Bevölkerung führen können. – 1977 war übrigens auch das Jahr, in dem die Denkmalschutzbehörde aufgelöst wurde, die vermutlich einzige staatliche Instanz, welche die Planierraupen hätte aufhalten können.

Neuer Chefredakteur

1979 bekam die HZ einen neuen Chefredakteur, nachdem ein Jahr davor der bisherige Chef, Eckenreiter, zunächst zum Sekretär für Propagandafragen im Kreisparteikomitee, später zum Ersten stellvertretenden Vorsitzenden des Kreisvolksrates (heute Kreisrat genannt) befördert worden war. Später, als seine Zeit dort um und er in die Redaktion zurückgekehrt war, hat er einiges aus seiner Volksratstätigkeit zum Besten gegeben. Etwa, dass er auch schon mal einen zusammengerollten nagelneuen Teppich aus der Heltauer Teppichweberei geschultert und einen Krug Wein in die Hand genommen habe, um in Bukarest die Ministerialbürokratie wieder in die Gänge zu bekommen. Oder, dass er aus der Hauptstadt tagtäglich mit dringenden Aufträgen überschüttet worden sei. „Und was hast du gemacht?“ „Ich habe die Schriftstücke erst einmal in die Schublade gesteckt, damit ihnen die Dringlichkeit vergeht.“ Dixit Eckenreiter, todernst. Der Mann hatte Humor.

Der Neue war Georg Scherer, Ingenieur von Beruf und ohne jegliche journalistische Erfahrung oder diesbezüglichen Ehrgeiz. Er hat sich deswegen auch nie schreibend betätigt, sondern sich um technische Fragen, um Geld- und Verwaltungsangelegenheiten gekümmert. Diese seine Stärken kamen in den ersten Jahren nach der Wende zum Tragen, als er – nicht zuletzt durch Einsatz seines persönlichen Eigentums – die Zeitung vor dem Untergang aus finanzieller Not retten konnte. Wenn in diesen Tagen die Hermannstädter Zeitung ihren 50. Geburtstag feiern kann, dann ist es – das muss hier gesagt werden – auch sein Verdienst.

Ein weiterer Schicksalsschlag traf die Zeitung (und vermutlich auch alle anderen Medien in Rumänien) im Frühjahr 1982. Angeblich aus Spargründen (die Auslandsschulden in Höhe von 21 Milliarden Dollar, verursacht durch die forcierte Industrialisierung Rumäniens, wollte Ceaușescu binnen kürzester Zeit auf Heller und Pfennig zurückzahlen) musste die Redaktion sieben Mitarbeiter, davon fünf Redakteure, entlassen, darunter Rolf Maurer, der später zum Theater ging, und Friedrich Schuster, den Sagensammler, der Hermannstadt-Korrespondent vom Neuen Weg wurde. Auch meine Frau Annemarie Schuller gehörte zu den Entlassenen (sie wurde später Hermannstadt-Korrespondentin der Karpaten-Rundschau); dass sie zu dem Zeitpunkt schwanger war und schwangere Frauen gemäß Arbeitsgesetzgebung nicht entlassen werden durften, zählte für die Partei nicht, wie uns die damalige Propagandasekretärin eröffnete, die uns überdies vorwarf, wir hätten uns in dieser Angelegenheit dort und dort mit einem Rechtsanwalt getroffen: Wir waren also observiert worden.

1982 war übrigens das Jahr, in dem – in meiner Erinnerung – die Warteschlangen vor den Lebensmittelläden sich zu formieren begannen und die winterlichen Fahrverbote für Privatautos verhängt wurden, man sich für ein paar Flaschen Milch mitten in der Nacht anstellen musste, sich im Laden für den Erwerb eines blaugefrorenen Hähnchens beinahe totschlug, man nächtelang in kilometerlangen Autoschlangen für vierzig oder gar nur zwanzig Liter Benzin monatlich anstand und wir die Abende, die Kinder mit ihren Hausaufgaben, meist bei Kerzenschein verbrachten. Das alles haben wir jahrelang mitgemacht, zähneknirschend, fluchend, aber auch feiernd: Je trüber die Zeiten, desto öfter trafen wir uns mit Freunden zum gemeinsamen Videogucken und Tanzen. Insgeheim waren wir davon überzeugt: So kann es nicht weitergehen, über kurz oder lang wird es den „vielgeliebten Führer“ nicht mehr geben!

Die Wende

Als am 22. Dezember 1989 um die Mittagszeit die Ceaușescus vor einer aufgebrachten Menschenmenge die Flucht ergriffen, fielen wir uns in der Redaktion vor Freude in die Arme. Die Zeitung hätte tags darauf erscheinen sollen, und ich hatte darauf gedrängt, dass sie nicht ohne wenigstens einen Satz über die spontanen Demonstrationen, die mittlerweile auch Hermannstadt ergriffen hatten, erscheinen dürfe. Der Chef hatte daraufhin versucht, Instruktionen im Zentralkomitee einzuholen, doch es ging niemand an den Apparat: Die Leute dort waren entweder schon geflohen oder, viel wahrscheinlicher, gar nicht erst zum Dienst erschienen. Die sich überschlagenden Ereignisse ließen schließlich nur eine Entscheidung zu: Die aktuelle Ausgabe wurde gestoppt. Die nächste kam außertourlich am 26. Dezember, einem Sonntag, heraus, eine Notausgabe in vier Seiten, hauptsächlich mit Kommuniqués in der in Jahrzehnten eingeübten „hölzernen“ Sprache, aber nicht mehr unter dem ungeliebten Namen Die Woche, sondern wieder als Hermannstädter Zeitung.

Über die Nachwendejahre der HZ möchte ich keine Worte verlieren, dieser Text würde damit noch länger werden, als er ohnehin schon ist. Höchstens so viel: Die Ceaușescus waren noch nicht hingerichtet, als wir – eine Handvoll Journalisten und Theologen – uns in die Gründung einer neuen politischen Vertretung der deutschen Minderheit stürzten. So entstand das Demokratische Forum der Deutschen in Rumänien. Darüber habe ich ausführlich bei anderer Gelegenheit und an anderer Stelle berichtet.

Eine Frage bleibt aber noch offen: Waren wir in der Zeit bis 1989 als Redakteure einer von der kommunistischen Partei herausgegebenen Zeitung Stützen des Systems? Zweifellos, wir waren es. Allein schon der Bericht von beispielsweise einem Faschings- oder Marienball war regimeerhaltend, denn er besagte unterschwellig: Seht her, auch im Kommunismus dürfen wir unsere Traditionen pflegen, uns unbeschwert und auf unsere Weise und zu unserer Musik unterhalten! Oder indem wir – nicht von uns geschriebene – Stellungnahmen gegen die Auswanderung abdruckten. (Dass die Aussiedlung von der Securitate gesteuert und von der Bundesrepublik finanziert wurde, wussten wir anfänglich nicht. Und wie wenig „gemeinschaftserhaltend“ unsere Berichterstattung gewesen ist und wie wenig die Anti-Auswanderungs-Kampagnen bewirkt haben, konnte man deutlich nach der Wende erkennen, als unsere Landsleute stehenden Fußes Haus und Hof im Stich ließen und in hellen Scharen die vielbesungene „süße Heimat“, das „Land des Segens“ Richtung Deutschland verließen.)

Und auch ich habe mein Teil zur Stützung des Systems beigetragen. Als publicist-comentator – so meine Berufsbezeichnung auf der Gehaltsliste – wurde oftmals ich dazu verdonnert, die lästigen politischen Artikel für die erste Seite abzufassen, das heißt irgendwas mit Ceaușescu oder einer seiner gerade gehaltenen Reden. Dafür hatte ich allmählich eine Routine entwickelt, da diese Reden irgendwann austauschbar geworden waren. Ich nahm den „Neuen Weg“ aus etwa derselben Zeit des Vorjahrs zur Hand, extrahierte aus dem dort erschienenen Kommentar (und es gab immer einen) das Ceaușescu-Zitat vom Ende (kein Kommentar ohne solche Zitate!), setzte es an den Anfang meines „Kommentars“, paraphrasierte ein paar weitere Sätze aus dem Vorlagentext, dann noch ein Zitat aus dem Vorjahr zum Schluss, und, voilà!, in einer halben Stunde war „mein“ Text von anderthalb bis zwei Maschinenseiten fertig und konnte in die Druckerei gehen. Ich bin, weiß Gott, nicht stolz auf solcherlei „Lohnarbeit“, aber einmal sollte auch das erzählt sein.

Die Redaktion im Februar 2018: sitzend (v. l. n. r.): Rodica Bărbat (Sekretärin), Beatrice Ungar (Chefredakteurin), Ruxandra Stănescu (stellvertretende Chefredakteurin); stehend (v. l. n. r.): Werner Fink (Redakteur), Cynthia Pinter (Redakteurin), Mariana Iliuț (Botenfrau) und Fred Nuss (Fotoreporter).  
Foto: Fred NUSS

Es werden nicht viele Zeitungen fünfzig Jahre alt. Die vermutlich weltälteste Zeitung ist die Londoner Times, gegründet 1785, die älteste in Siebenbürgen dürfte die Kronstädter Zeitung gewesen sein, die 1936 ihren 100. Geburtstag feierte und danach noch eine Weile erschien, gefolgt vom 70jährigen Siebenbürgisch-Deutschen Tageblatt, 1874 bis 1944. Auch die Allgemeine Deutsche Zeitung für Rumänien in Bukarest (1949 als Neuer Weg gegründet) ist mittlerweile fast siebzig. Dass die Hermannstädter Zeitung den Sprung ins sechste Lebensjahrzehnt geschafft hat, mutet heute angesichts aller Schicksalsschläge wie ein Wunder an. Darum mein Wunsch, der eines vor dreizehn Jahren in den Ruhestand gegangenen Berufskollegen, an die derzeitige Mannschaft: Macht weiter und, am liebsten, macht es besser!

Horst WEBER

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Veröffentlicht in Aktuelle Ausgabe, Geschichte.