Fragmentarische Parallelwelten

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Gedanken zu Radu Judes neuem Langspielfilm „Țara Moartă” (Das tote Land)

Ausgabe Nr. 2545

 

In seinem neuen Langspielfilm „Țara Moartă” (Das tote Land) verlässt der rumänische Regisseur Radu Jude das Feld der Fiktion, um auf experimentelle Weise die Thematik der Judenverfolgung in Rumänien im zweiten Weltkrieg zu verarbeiten.

Fotografien werden wie bei einer Diashow eingeblendet. Ihre Ränder sind von der Zeit zerfressen, manche bis zur Unkenntlichkeit. Oft sind Jahreszahlen unsauber hineingeritzt – „1937”, „1942”. Abgesehen von ihren Daten, unterscheiden sich die Bilder nicht sehr. Da sind von Wattebäuschchen übersäte Kinder auf Schlitten, junge Männer in Soldatenuniform mit Motorrad und traditionell gekleidete Bauernfamilien. Sie posieren vor Leinwänden, die mit Landschaftsmotiven bemalt sind.

Der Fotograf Costică Acsinte – u. a. Pilot und offizeller Fotograf im Ersten Weltkrieg – setzte in seinem Studio „Foto Splendid” in Slobozia, in den 1930er und 1940er Jahren allerlei Menschen aus der Region in Szene.

Diese Aufnahmen bilden die visuelle Grundlage für „Țara Moartă”. Ausschnitte von Propaganda-
programmen aus dem Radio und Passagen aus den Tagebüchern des jüdischen Arztes Emil Dorian, von Jude selbst vorgetragen, ergänzen auditiv. Während die Schilderungen über die Gräueltaten, die der jüdischen Bevölkerung widerfuhren sich immer mehr steigern, haben die Bilder durchgehend einen Hang, einen idyllischen Alltag darzustellen.

„Fragments of Parallel Lives” (zu deutsch, „Fragmente paralleler Leben”), heißt der Zusatz, den der Filmtitel in der englischen Übersetzung erhalten hat. Fragmenthaft wirkt auch die Zusammenstellung von Found-Footage, die Jude erstmals in seinem Werk so verwendet. Dieses essayistisch-dokumentarische Element erinnert an Werke der Third Cinema Bewegung, die sich mit der Aufarbeitung von Themen wie Kolonisierung und Bürgerkriegen auseinandersetzt. Während jene Filme mit den Realitäten grausamer Aufnahmen schocken, wählt Jude einen anderen Ansatz: „Țara Moartă” zeigt, wie Gräueltaten unter den Teppich gekehrt werden.

Inwiefern spiegeln Dokumente, wie Fotografien, die Realität ihrer Zeit wider – und inwiefern verstecken sie sie? Um diese zentrale Frage hat Jude seinen Film konstruiert. Gehörtes und Sichtbares trennt hier eine breite Kluft. Radu Jude teilte in einem Interview mit, es sei sehr enttäuschend gewesen, dass von 8.600 Bildern, die zwischen 1937 und 1946 entstanden waren, nicht eines auch nur annähernd auf die schrecklichen Taten im Antonescu-Regime hinwies. Ein Kriterium der Auswahl der Bilder waren erkennbare Jahreszahlen, damit diese eine chronologische Kontinuität mit den Tagebucheinträgen bilden würden. Einerseits wirken die Bilder gestellt im Zusammenspiel mit den Schilderungen Dorians. Vor allem aber lassen sie die Parallelwelten erkennen, in denen sich die verschiedenen Teile der rumänischen Bevölkerung im Zeitalter der Legionärbewegung des Antonescu-Regimes sowie zu Beginn des Kommunismus bewegten.

Seine Premiere hatte „Țara Moartă” auf dem 70. Locarno Film Festival im August und wurde vergangene Woche in der Habitus Buchhandlung erstmalig in Hermannstadt gezeigt. Es ist der sechste Spielfilm des rumänischen Regisseurs, der mit „Aferim!” und „Cea mai fericită fată din lume” bereits große Erfolge auf der Berlinale und anderen Filmfestivals feierte.

Emeli GLASER

 

Ein stolzer Soldat auf einem Motorrad, eine Jazzband aus Slobozia 1943, zwei von vielen Fotos aus dem Nachlass von Costica Acsinte, die Radu Jude in seinem neuesten Film einblendet. Die Aufnahmen können unter www.colectiacosticaacsinte.eu gesehen werden.

 

Veröffentlicht in Aktuelle Ausgabe, Film.