Mutige Entscheidungen der Jury

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Streiflichter vom 70. Filmfestival in Cannes / Von Claus REHNIG
Ausgabe Nr. 2532

 

5-the+square

Von Cannes 2017 werden die langen Schlangen vor den Sälen und im Markt in Erinnerung bleiben, weil die Sicherheitsvorkehrungen noch drastischer waren als in den vergangenen Jahren. Wegen einer Bombendrohung musste sogar eine Vorführung später beginnen. Es wurde viel gefeiert zum 70. Festival. Es gab viele Filme, zu viele, und die Qualität war nicht immer auf der Höhe der Erwartungen, weil Meisterwerke fehlten.

 

Im Wettbewerb gab es eine Reihe von Filmen, die alle etwa gleich gut erschienen, sodass kaum jemand eine Prognose auf den Palmarès wagte. Gut bewertet wurde der japanische Film von Naomi Kawase, „Licht“. Ein erblindender Fotograf lernt da eine junge Frau kennen, die Texte für die Audiodescription von Filmen schreibt. Die sehr sensible poetische Geschichte wurde mit dem ökumenischen Preis ausgezeichnet. Sehr beliebt war auch der französische „120 Schläge pro Minute“, von Robin Campillo, der den Kritikerpreis erhielt und dann auch noch den Grand Prix, eine Art fiktionale Reportage über die Arbeit der französischen Aids-Organisation Act Up, eine Liebeserklärung an das Leben. Der vielleicht schönste Film war „Wonderstruck“ von dem Amerikaner Todd Haynes über zwei Kinder, die ihr Leben gerne anders hätten. Haynes rollt eine ineinander verwobene Familiengeschichte über 50 Jahre auf, mit Julianne Moore, voller Überraschungen. Auch der russische Film „Lieblos“ (Jurypreis) von Andrey Zvyagintsev war ein Spitzenreiter, über einen 12-jährigen Jungen, der die Trennung seiner Eltern nicht verkraften kann. „Lieblos“ zeigt dezent ein Stück russische Wirklichkeit, die Überforderung des Staats und seiner Bürger. Der andere russische Film von dem Ukrainer Sergej Loznitsa war noch unversöhnlicher. „Eine sanfte Frau“ zeigt die Höllenfahrt einer Frau (Vasilina Makovtseva, hervorragend), die ihren Mann im Gefängnis besuchen will in einer Art Goulagstadt, wo alle vom Elend der Insassen und der Besucher profitieren. Ein wenig schwere Kost.

Der französische Film „Happy-End“ von Michael Haneke wurde trotz guter Schauspieler (Isabelle Huppert, Jean-Louis Trintignant) nicht so gut aufgenommen, wie seine Filme sonst. „Happy-End ist das Porträt einer Familie der Bourgeoisie von Calais vor dem Hintergrund der Flüchtlingskrise. Auch François Ozon konnte mit „Doppelter Liebhaber“ nur bedingt punkten. Eine Frau heiratet da ihren Psychotherapeuten, der ihr verschweigt, dass er einen Zwillingsbruder hat. Interessantes Thema, kompliziert, spektakulär. Eine weitere französische Produktion „Rodin“ war als Biographie ein bisschen zu klassisch und langatmig für Cannes und seltsam in der Karriere von Jacques Doillon.

Teils interessant, der ungarische Film „Jupiters Mond“ von Kornél Mundruczo. Eine ziemlich anspruchsvoll gewollte, aber in Cannes nicht angekommene Story über einen syrischen Migranten, der beim Überqueren der Grenze beschossen wird und sich danach wie ein Engel in die Lüfte erheben kann und einen Arzt, der dessen Fähigkeiten ausnutzen will, um eine Welt zu schaffen, wo Wunder käuflich sind.

Und schließlich „The Square“ von dem Schweden Ruben Östlund, ein Blick auf die heutige Kunstszene, auf Authentizität, Manipulation, gehörte zu den anspruchsvollen Filmen. Das fast zweieinhalb Stunden lange Werk handelt von einem modern und ökologisch denkenden, allseits geschätzten Museumsdirektor, der eine Installation – „The Square“ – vorbereitet, die zu mehr Altruismus aufrufen soll. Als ihm sein Handy gestohlen wird, flippt er total aus.

Die Goldene Palme dafür scheint völlig berechtigt, ebenso der Jury-Sonderpreis der 70. Filmfestspiele in Cannes an Nicole Kidman, die in zwei Filmen spielte („The Killing of the Sacred Deer“ von Yorgos Lanthimos und „The Beguiled“ von Sofia Coppola), wogegen der Regiepreis für Sofia Coppola nicht überall Beifall fand, da ihr Remake die Kraft des Originals von Clint Eastwood nicht ganz erreicht. Ebenso wurde der Schauspielerpreis für Joaquin Phoenix diskutiert, weil er praktisch unkenntlich als brutaler, seltsamer Veteran in „You Were Never Really Here“ zu sehen ist, wo er die Tochter eines Senators wiederfinden soll. Der Film der Engländerin Lynne Ramsay ist sonst ein sehr schönes Stilexperiment in Amerika.

Das deutschsprachige Kino war diesmal vertreten mit Fatih Akins in Hamburg spielendem „Aus dem Nichts“ über eine Frau, deren türkischer Mann und ihr Kind Opfer eines Anschlags von Neonazis sind und als die Täter mangels Beweises freigesprochen werden, rächt sie sich auf ihre Weise. Diane Kruger, die sonst eher im Ausland spielt, galt als Anwärterin und bekam den Schauspielerinnenpreis.

Nicht im Wettbewerb war „Western“ über deutsche Arbeiter in Bulgarien, die mit den einheimischen Dorfbewohnern in Konflikt kommen, obwohl sie eigentlich zur Verbesserung der dortigen Infrastrukturen da sind. Nur ein ehemaliger Fremdenlegionär wird mehr oder weniger akzeptiert. Valeska Grisebach‘s „Western“ ist ein sehr harter, spröder Film, der es beim Publikum nicht leicht haben wird. Ebenfalls ausser Konkurrenz (von Deutschland mitproduziert), der bulgarische Film „Richtungen“ von Stephan Komandarev, der ein desolates Bild des Landes zeichnet. Korruption überall und täglicher Überlebenskampf, der Plot sind Taxifahrten, wo man das Schicksal der Menschen kennenlernt.

Wenn von Deutschland die Rede ist, darf Werner Herzog nicht vergessen werden. Er bekam in Cannes vom französischen Regisseursverband die Goldene Karosse, eine Auszeichnung für sein Lebenswerk.

Kein rumänischer Film im Wettbewerb, das war übrigens das Los einiger Länder, aber Rumänien war im Filmmarkt vertreten und im Shortfilmcenter mit einer Reihe, die sich Romanian Short Waves nannte. Da sah man u. a. „Almania“ von Anton und Damian Groves, wo sich ein Lastwagenfahrer trotz des Risikos von einer Familie überzeugen lässt, sie nach Deutschland mitzunehmen. Sehr lustig der Zeichentrickfilm „Mamă, tată, să vă spun ceva“ von Paul Mureșan, wo ein Junge seinen Eltern sagt, dass sie ein Monster in die Welt gesetzt haben. In „Catlady: Bună ziua la pisici“ von Hedda Bednarszky will eine Frau alle streunenden Katzen retten und hat 37, die ihr Leben sind. „Ninel“ von Constantin Popescu zeigt eine Frau, die sich im Internet in jemand verliebt hat, ohne zu wissen, wie er aussieht und dann etwas desillusioniert ist. Und schöne Schneelandschaften sieht man im Erstling „Limba Paternă“ von Cristina Juks, wo eine Frau nach Jahren mit ihrem Vater Kontakt aufnehmen will.

 

Szenenfoto aus dem mit der Goldenen Palme preisgekrönten Film The Square“ von Ruben Östlund.

 

Veröffentlicht in Aktuelle Ausgabe, Film.