Zur Aufführung von Johann Sebastian Bachs Passion nach dem Evangelisten Matthäus BWV 244
Ausgabe Nr. 2525
Es kamen ganz viele Menschen, um die Matthäuspassion in der Hermannstädter evangelischen Stadtpfarrkirche am 6. April zu erleben. Kein Sitzplatz blieb leer im altehrwürdigen Gotteshaus. Schon die Mitwirkenden hatten Mühe, sich in der Vierung zwischen Haupt- und Seitenschiffen zu platzieren. Auf der Kanzel: der Evangelist, die tragende Solostimme im gesamten Oratorium, hinter dem zweiten Orchester der Baritonsänger der Jesusworte, neben dem Dirigenten der Bass, dem alle „bösen Buben”, also Petrus, Judas, Pilatus stimmlich anvertraut sind. Dazu noch drei Solisten für die zahlreichen und schwierigen Arien, sowie zwei Chöre und zwei Orchester, die einander gegenüberstanden.
Die Aufstellung war eine wunderbare: schlüssig, akustisch bestmöglich und dem doppelchörigen Werk aufs glücklichste gerecht. Hätte der Platz gereicht, wären mehr Streicher für die Balance nicht schlecht gewesen. So hat der große und großartige Klausenburger Philharmoniechor das Hermannstädter Orchester klanglich stellenweise einfach vom Platz gefegt.
Wer hatte nun „recht”, fragte man sich an manchen Stellen vom Eingangs- bis zum Schlusschor: die eher kammermusikalisch musizierenden Instrumentalisten oder der massive Chor? Glücklicherweise wird dieser, wie ein großes wunderbar klingendes Instrument, einfach jeder Anforderung gerecht. Er kann alles: zart und innig, laut und metallisch, langsam, schnell, in jeder Sprache und in allen Musikstilen singen. Dazu bereitet Cornel Groza, der Chorleiter, sein Ensemble auf alle Situationen vor, denn er studiert die Werke ein, im Konzert aber dirigiert immer ein Anderer.
War es Absicht, war es eine Eingebung des Moments, dass oft die Chöre, ja sogar die Choräle, laut begannen und dann angepasst wurden, so dass man das charakteristische Miteinander von menschlichen Stimmen und Instrumenten ausgewogen hören konnte? Hat der temperamentvolle Dirigent diesen Rolls Royce unter den professionellen Vokalensembles zu energisch angefeuert? Die intensivsten Momente im Oratorium waren jedenfalls die leisen, ruhigen. Und der einzige Augenblick, in dem traditionell, aber entgegen Bachs Anweisungen, a cappella musiziert wird, bleibt unvergessen: der Choral „Wenn ich einmal soll scheiden”. In diesem Moment verschmolzen der Ort mit seinem hohen hölzernen Kruzifix, die unsterbliche Musik Bachs und die Mitwirkenden zu einer andächtigen Einheit.
Wenn unschuldige Kinderstimmen von Sünde, Pein und großem Leid singen, ist das ergreifend, und so war es auch an den beiden Stellen, als der von Brita Falch Leutert vorbereitete Kinderchor den Choral-cantus firmus sang. „O Lamm Gottes” und „O Mensch, bewein dein Sünde groß” kamen als Klang aus einer anderen Welt über das große Ensemble im Eingangschor und im Schlusschor des ersten Teils.
Warum gibt es die langen Arien in barocken Passionsmusiken? Es sind Meditationen der gläubigen Seele, die das Geschehen in sich aufnimmt und auf sich persönlich bezieht. Daher auch die heute schwer zu verdauenden Texte: „Blute nur, du liebes Herz” oder „Komm, süßes Kreuz, ich will dich tragen”. Hier war zu hören, dass sich die Veranstalter um die besten stimmlichen Lösungen bemüht hatten. Cezar Ouatu, als selten zu hörender Altus-Sänger und Gerhard Heinrich aus Österreich, ein schlanker Oratorien-Tenor, seien besonders genannt. In manchen Arien traf es sich ungeschickt, dass einer ausgewogenen Gesangsleistung holprige Solopartien am Instrument gegenüber standen, und umgekehrt ein Bläserensemble ganz anders musizierte als die dazutretende Gesangsstimme.
War Bachs Matthäuspassion, so wie sie am vergangenen Donnerstag in Hermannstadt erklang, nun eine Passionsandacht oder ein Konzert? Die Erschütterung, der Augenblick der Stille nach dem letzten Akkord, den in diesem Werk übrigens die Flöte durch ihren langen und schmerzvollen Septimvorhalt gestaltet, blieb aus. Einige Sekunden des Innehaltens hätten genügt. Zwar hatte der Dirigent Nicolae Moldoveanu die Musik zur Ruhe und mäßiger Lautstärke zurückgefahren, aber der Schlusston war noch nicht verhallt, da brandete Beifall auf: Küsschen rechts und links, Bravorufe, Umarmungen und Blumen. Das alles galt der künstlerischen Gesamtleistung und auch zahlreichen herausragenden Momenten im Konzert. Es war auch die Erleichterung nach rund drei Stunden Musik und sei allen herzlich gegönnt. Wer liebt nicht eine Evangelistenstimme von solcher Wärme und eine Rolle, die so ausdruckvoll gestaltet wird wie die von János Szerekován? Man bedenke außerdem, dass nur ein kleiner Teil des Publikums den Text verstand und das Heft mit der guten Übersetzung ins Rumänische nicht von allen sofort verinnerlicht werden konnte.
Die Rezensentin hatte vor, ein kritisches Wort darüber zu verlieren, dass im Vorfeld des Konzerts in der lokalen Presse zu lesen war: „Ein Konzert auf diesem hohen Niveau wurde in unserem Lande noch nie verwirklicht“ (der Dirigent im Interview). Das ist ihr nun nicht mehr wichtig. Als sie nach Hause kam, fand sie ihre eigene Mutter tot im Bett liegend. Möglicherweise war sie während der Matthäuspassion entschlafen. Der Tod verändert die Optik, er ist ein großer Lehrmeister.
Ursula PHILIPPI
Foto 1: Bachs Matthäuspassion führten unter der musikalischen Leitung von Nicolae Moldoveanu am Donnerstag der Vorwoche in der evangelischen Stadtpfarrkirche in Hermannstadt das Orchester der Hermannstädter Staatsphilharmonie, der Chor der Klausenburger Transilvania-Philharmonie und der Kinderchor der Hermannstädter evangelischen Kirchengemeinde auf. Lesen Sie mehr dazu auf Seite 5. Unser Bild: Der Generalprobe am Mittwochabend wohnten viele interessierte Musikliebhaber bei.
Foto: Fred NUSS