Sammelband „Pluralität als Existenzmuster“
Ausgabe Nr. 2517
Sie meinen es ja nur gut: In den letzten Jahren haben sich Literaturwissenschaftler und Verleger förmlich auf Autoren mit Migrationshintergrund gestürzt. Dabei lief auch die Wissenschaft immer wieder Gefahr, die Schriftsteller auf autobiographische oder soziologische Stereotype zu reduzieren. Die große Stärke des neu erschienen Sammelbandes „Pluralität als Existenzmuster. Interdisziplinäre Perspektiven auf die deutschsprachige Migrationsliteratur“ ist es deswegen, da die meisten Beiträge darin dieses Thema problematisieren und sich auf den Kunstcharakter der Literatur konzentrieren.
Lange benahm sich die Germanistische Literaturwissenschaft, als befände sie sich auf einer Insel und ignorierte die Tatsache, dass Literatur keine Staatsgrenzen respektiert. Dabei findet Austausch zwischen Schriftstellern statt, seit es Schriftsteller gibt. Ausgerechnet der so gerne als „deutscher Nationaldichter“ bezeichnete Goethe war ein großer Anhänger dieser internationalen Verflechtungen und erfand den Begriff der „Weltliteratur“.
Gegen Mitte des 20. Jahrhunderts jedoch entdeckte die Literaturwissenschaft die Interkulturalität für sich und begann nun, sich mit umso größerem Eifer mit diesem Thema zu beschäftigen, als wolle sie die verlorenen Jahre nachholen.
Damit tat sie vor allem den Autoren mit Migrationshintergrund nicht immer einen Gefallen. Ein Beitrag aus dem Sammelband „Pluralität als Existenzmuster“ zitiert beispielsweise den Schweizer Schriftsteller Cătălin Dorian Florescu: „Auch uns deutschsprachigen AutorInnen mit fremden Wurzeln ist nicht gedient, wenn man uns ‒ meinetwegen wohlwollend ‒ aus der Ganzheit der Literatur herausschneidet, isoliert anschaut und bestaunt.“
Die Autorinnen und Autoren des Sammelbandes, Fachleute aber auch Doktorandinnen und Masterandinnen aus Deutschland, Mexiko, Spanien, Griechenland, den USA, Polen und Rumänien, sind sich dieses Problems wohl bewusst, und versuchen deswegen, sich auf ihre ursprüngliche Aufgabe zu konzentrieren: Die Betrachtung der Literatur als Literatur.
Wie Herausgeberin Raluca Rădulescu, außerordentliche Professorin am Germanistischen Institut der Universität Bukarest, schreibt, möchte sie „auf die Gefahr aufmerksam machen, dass in den letzten Jahren bei den meisten Deutungsersuchen der Migrationsliteratur die Literarizität der Texte oft zugunsten autobiographischer bzw. soziologischer Muster verloren gegangen ist.“
„Pluralität“ wie im Titel angekündigt meint dabei die Erkenntnis, das es weder „die Migranten“ als einheitliche Gruppe, noch eine strenge Dualität zwischen Migranten und Nicht-Migranten gibt. Identität ist vielmehr ein Spektrum, wie Herausgeberin Christel Baltes-Löhr, ihres Zeichens Genderbeauftragte der Universität Luxemburg, in ihrem Beitrag schreibt. Dank der Konzentration auf das Literarische gelingt es den Beiträgen des Sammelbandes, verschiedene Punkte auf diesem Spektrum zu verdeutlichen und neu zu entdecken.
Bei den ingsesamt 12 Beiträgen handelt es sich um die Ergebnisse der Sektion „Die deutschsprachige Migrationsliteratur zwischen Eigenständigkeit und Globalisierung“, die im Rahmen des zehnten Internationalen Germanistenkongresses in Kronstadt vom 31. Mai bis 4. Juni 2015 getagt hatte.
Bernadette MITTERMEIER
Christel Baltes-Löhr (links) in ihrem Büro an der Luxemburger Universität in Belval mit Luxemburgs ehemaligen Kulturministerin Erna Hennicot-Schoepges. Foto: Beatrice UNGAR
Raluca Rădulescu und Christel Baltes-Löhr (Hrsg.): Pluralität als Existenzmuster. Interdisziplinäre Perspektiven auf die deutschsprachige Migrationsliteratur. Transcript-Verlag, Bielefeld, 2016. 234 Seiten. ISBN: 978-3-8376-3445-7.