Deutsche Theaterpremiere über religiösen Fanatismus
Ausgabe Nr. 2499
Vom „normal schwererziehbaren Schüler“ zum „Jesusspinner“. Diesen Werdegang des Teenagers Benjamin können die Theaterliebhaber im neuesten Theaterstück, das an der deutschen Abteilung inszeniert wurde, erleben. Die Vorpremiere von „Märtyrer“ von Marius von Mayenburg fand am vergangenen Donnerstag, im Radu Stanca-Nationaltheater statt. Regie führt der gebürtige Hermannstädter Radu-Alexandru Nica, der hier in der Vergangenheit schon einige Erfolge feiern konnte, zum Beispiel mit der Inszenierung der Theaterstücke „Nora“, „Norway.today“ oder „Wie feuere ich meinen Mörder“.
„Märtyrer“ handelt in erster Linie vom religiösen Extremismus. Schüler Benjamin – wunderbar interpretiert von Ali Deac – hat sich plötzlich dem fundamentalen Christentum verschrieben und redet fast nur noch in alttestamentarischen Bibelversen. Er belehrt jeden und klärt besorgt über die Folgen auf: „Gott wird dich richten“. Damit gerät er besonders mit Vertrauens- und Biologie-Lehrerin Frau Roth, hervorragend gespielt von Johanna Adam, aneinander: Schöpfung versus Darwin. In der Biologiestunde entledigt sich Benjamin, alias Ali Deac, beim Thema Verhütung, seiner Kleider und der „Krüppel“ und erste Benjamin-Jünger Georg (Iustinian Turcu) macht es seinem Propheten gleich.
Ob Evolution, Emanzipation, Homosexualität, Judentum, alles ist in Benjamins Augen des Teufels und eine Sünde. Sogar der Religionslehrer (Daniel Plier) sieht im Vergleich zu Benjamin wie ein Hobbychrist aus. Der Schuldirektor (Valentin Späth) will, dass der Konflikt so schnell wie möglich beigelegt wird. Benjamins Mutter (Renate Müller-Nica) vermutet erst Drogen oder sexuelle Probleme mit unkontrollierbaren Erektionen, schaut aber nach dem Coming Out ihres Sohnes als fanatischer Christ hilflos zu und bittet die Pädagogen um Hilfe. Nicht einmal die reizvolle Mitschülerin Lydia (Anca Cipariu) hat eine Chance, zu Benjamin durchzukommen und wirbt vergeblich um seine Freundschaft. Der Sportlehrer (Daniel Bucher) findet sogar „Pubertät ist eine vorübergehende Geisteskrankheit.“
Trotz des ernsten Themas gibt es einige komische und tragikomische Momente, in denen sich das Publikum das Lachen gönnen darf. Das Bühnenbild von Mihai Păcurar besteht aus einem riesigen bunten Kinderspielplatz mit Schaukeln, Klettergerüst, Trampolin, Sandkasten und Federwipptier. Der Spielplatz steht für die sorglose Kindheit und ist dadurch im Kontrast zum ernsten Thema des Theaterstücks. Um den Dialog der Protagonisten in den Vordergrund zu rücken, gibt es nur ganz wenig Musik zu hören.
Das sehr aktuelle Thema verlangt dem Zuschauer sehr viel Konzentration ab. Zum Schluss stellt sich der Zuschauer die Frage, wie eine liberale Gesellschaft auf einen Fanatiker wie Benjamin – der alles für seinen Gott tut, ja sogar einen Mord verübt – reagieren würde. „Märtyrer“ regt zum Nachdenken und zu Diskussionen über Gott und die Welt an.
Cynthia PINTER
Foto 1: Szenenfoto mit Valentin Späth, Ali Deac und Johanna Adam (v. l. n. r.).
Foto 2: Benjamin (Ali Deac, rechts) sucht auch im Gespräch mit dem Religionslehrer (Daniel Plier) die Konfrontation.
Foto 3: Der Schulleiter (Valentin Späth), die Biologielehrerin (Johanna Adam) und der Sportlehrer (Daniel Bucher) liefern sich wahre Wortgefechte (v. l. n. r. )
Fotos: Cynthia PINTER