Realität und keine Metaphern

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Cannes-Gewinner Mungiu zeigte neuesten Film auf dem Großen Ring
Ausgabe Nr. 2496
 

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Die eine Hand wäscht die andere. Und der Zweck heiligt die Mittel. Eigentlich will ein sorgender Vater nur eine gute Abiturnote für seine Tochter, eine bessere Zukunft, ein besseres Leben als er hatte. Das Ziel ist ein Studium in Cambridge. Im neuen Spielfilm „Bacalaureat“ von Cristian Mungiu, der am Montagabend auf dem Großen Ring in Premiere und im Beisein des bekannten Regisseurs gezeigt wurde, ist die Antwort auf jedes Problem: „Ich kenne jemanden, der jemanden kennt, der dir helfen kann.“ Der Film wurde beim diesjährigen Filmfestival in Cannes mit dem Preis für beste Regie ausgezeichnet.

 

Die Story ist schnell gesagt: Die Hauptfigur ist ein in seiner Kleinstadt respektierter Arzt, dessen Tochter kurz vor der Abiturprüfung steht, nach der ihr ein Studium in Cambridge winkt. Doch dann passiert das Unglück: Die Tochter wird von einem Vergewaltiger überfallen und alles scheint schief zu laufen. Die Mutter des Arztes erleidet einen Schwächeanfall, seine Frau ist kränklich und verlässt kaum die Wohnung, ein Stein durchschlägt sein Wohnzimmerfenster, ein Fenster seines Autos wird kaputtgeschlagen, die Polizei übt Druck auf ihn aus, einen kranken Patienten verhören zu dürfen und ihm selbst drohen Ermittlungen wegen Bestechung. Zweieinhalb Stunden verfolgt der Zuschauer den Vater, der eigentlich alles nur aus Sorge um seine Tochter macht. Der Schauspieler und Rektor der Nationalen Universität für Theater- und Filmkunst Bukarest (Universitatea Națională de Artă Teatrală și Cinematrografică I.L. Caragiale), Adrian Titieni, glänzt in der Rolle des Vaters.

Alle Szenen wurden aus der Perspektive der dritten Person gefilmt, es gibt kaum Musik. Die Tragik wird durch den Dialog und die Mimik und Gestik der Schauspieler wiedergegeben, dafür braucht es kein melodramatisches Streichorchester, wie in Hollywood. Und immer, wenn die Hauptgestalt im Stress ist, läutet im Hintergrund ein nerviges Telefon, an das er nie rangeht. „Dieser Film handelt nicht von Korruption und Kompromiss, wie schon oft die Kritiker geschrieben haben. Es geht darin auch um das Altern, die Familie und vor allem um die Schuld und das Gefühl schuldig zu sein. Dadurch, dass ich keine Musik verwende, muss ich dieses Schuldgefühl anders ausdrücken. Das Klingeln des Telefons und das Nicht-Ran-Gehen fand ich passend“, antwortete Cristian Mungiu auf die Frage eines Zuschauers nach dem Sinn des Klingelns des Telefons.

Typisch rumänisch, würden einige sagen, wenn sie den Film sehen. Trotzdem behauptet der Regisseur, dass der Film nicht über Rumänien sei. „Ich versuche, Filme über Menschen zu machen, über Gedanken, Probleme, die wir haben. Und ich möchte über die Realität reden. Ich mag keine Metaphern. Unser erstes Thema ist die Realität.“ Doch eine Kritik an das rumänische Volk konnte Mungiu nicht ungesagt lassen: „Wir sind als Volk fähig eine individuelle Lösung für unsere persönliche Situation zu finden, aber wir sind unfähig eine kollektive Lösung zu finden. In der ersten Szene des Films sieht man im Hintergrund einen Wohnblock. Und im dritten Stock hat ein Bewohner seine Wohnung außen renoviert. Diese Szene sagt enorm Vieles über uns als Volk aus. Für sich findet jeder die Lösung des Problems aber für uns als Gesellschaft nicht.“

Vor fast 10 Jahren hat Cristian Mungiu mit „4 Monate, 3 Wochen, 2 Tage“ rumänische Filmgeschichte geschrieben. „Bacalaureat“ ist ein Film, der zwar weniger traurig aber genauso realitätsnah und sehenswert ist. Die Franzosen aus Cannes haben das schon wahrgenommen.

Cynthia PINTER

 

Regisseur Cristian Mungiu bei dem Dialog mit dem Publikum auf dem Großen Ring.                                                             Foto: die Verfasserin

 

 

 

Veröffentlicht in Aktuelle Ausgabe, Film.