Ironisch, beliebig, relativ, verblüffend

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Ausgabe Nr. 2448
 

Charles Muller inszeniert Goldberg-Variationen" von George Tabori

 

Eine leere Bühne verspricht keine amorphe Perspektive. Als ob die Zukunft nicht antichambrieren muss. Das Gute oder das Böse kann urplötzlich passieren wie im Falle eines Tanzes auf dem Vulkan. Eine leere Bühne aber, wenn es ein Publikum gibt, ermöglicht diesem die Einladung zur Meditation, zum Fabulieren. Es kostet ja nichts, banale oder verschachtelte Gedanken zu hegen, oder nach Lust und Laune, aus dem Nichts Emotionen zu „basteln“. Wie das gehen kann, zeigt der Luxemburger Regisseur und Intendant des Escher Stadttheaters Charles Muller in seiner jüngsten Inszenierung an der deutschen Abteilung des Hermannstädter Radu Stanca-Nationaltheaters, die vergangene Woche Premiere hatte. Muller inszeniert George Taboris Goldberg-Variationen" mit sprühendem Witz und offen, er zieht (fast) alle Register und lädt damit die Zuschauer ein, über die Geschichte der Menschheit nachzudenken.

 

Die Geschichte neu schreiben, das klingt nach kaltem Kaffee. Ist es aber beileibe nicht: Die Menschen mögen liebend gerne noch und noch sündigen, immer wieder von dem verbotenen Apfel beißen. Es gefällt ihnen, das Zusammenbrechen, die Dekadenz zu erleben, Gott als Karikatur darzustellen. Und trotzdem bleibt alles letzten Endes relativ. In seiner Posse, die „Goldberg-Variationen“, bringt der polnische Autor George Tabori eine schöpferische „Donquijoterie“ des menschlichen Sinnes auf die Bühne. Es ist nämlich nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Aber dieses Stückchen illustriert meisterhaft die groteske und gleichzeitig die mondäne Dimension des suchenden Menschen und seine karnevaleske Struktur.

Das Unerwartete strömt kräftig auf die Bühne: Ein Regisseur, namens Mr. Jay (Daniel Bucher) und Goldberg (Daniel Plier), sein Mitarbeiter, die das Spektakel der Schöpfungsgeschichte neu inszenieren wollen, debattieren heftig über die existentielle Frage: Was war zuerst? Das Ei oder die Henne? Es ist ja kein Ei des Kolumbus, eine solche Frage zu beantworten. Jede unüberlegte Antwort wird sofort bestraft oder verspottet wie im Falle von Nietzsches Gedankengebäude. Der deutsche Philosoph lebt nicht mehr. Gott aber, dessen Tod er proklamiert hatte, lebt und erweckt andauernd ein außerordentliches Interesse. Es ist eine Herausforderung, die sich wiederholt. Kein Zuckerschlecken.

Die beiden Protagonisten sind zugleich zwei Gegenpole, „Yin und Yang der Kontraste“, die sich nie einig sind. Zwei Hauptfiguren, die die Welt neu erschaffen wollen, ohne zu wissen, was das bedeutet. Der Regisseur, Mr. Jay, spielt eine doppelte Rolle, die des Spielleiters und eine andere des Schöpfers, namens Gott. Der andere Protagonist, der „lesende Jude“ und ein ehemaliger „Grabengräber“ aus Polen, Teil der Kreation und Kreator zugleich, wirkt wie sein Antipode. Dabei sind nicht nur die anderen Schauspieler involviert, sondern auch das Publikum. Nur die Putzhilfe (Krista Birkner), die anfänglich die Zeit verschwendet, findet etwas Erträgliches darin, durch Langweile und Desinteresse in der Gegenwart stecken zu bleiben. Es mag die Zeit nach einer neuen Schöpfung oder nach dem Desaster sein. Alles scheint erschöpft und schlummert.

Und jedes Mal debütiert die Geschichte mit dem Alpha-Buchstaben: „Im Anfang war das Wort“ oder „Es ward Licht!“ Jeder Mensch schöpft irgendetwas: Ein Baby zur Welt zu bringen, sich selbst zu verwirklichen, einen Baum zu pflanzen oder sogar aus Rache jemandem einen Stein in den Garten zu werfen sind normale „Momente“ des schöpferisch wirkenden Menschen. So entsteht eine Geschichte, sozusagen ein Präzedenzfall. Die Nostalgie nach dem verlorenen Paradies oder zumindest ein Überbleibsel vom „originalen“ Gebilde steckt allen Menschen im Hinterkopf. Sowohl die Schauspieler, der Regisseur oder Goldberg, als auch das Publikum, spielen eine doppelte Rolle auf verschiedenen Lebensbühnen. Wie schon erwähnt wiederholt sich die Schöpfungsgeschichte. Selbstverständlich mit anderen Beteiligten. Die Dualität, die alle Beteiligten wie eine Maske in verschiedenen Situationen tragen, scheint im Falle von Taboris Posse enttarnt. Die Handlung der „Goldberg-Variationen" stellt eine nicht geschönte Realität dar.

Alles ist und bleibt ein Kuddelmuddel im Leben, ein Akt aus mehreren Szenen, die man zumindest versucht, zusammenzuknüpfen. Die Schauspieler bevölkern mit ihrem realen und irealen Leben die Bühne. Die Geschichte wird wieder aufgerollt: Von der biblischen Episode der Ermordung Abels durch Kain, bis zur Kreuzigung wird alles ironisiert, bagatellisiert, relativiert. Trotz alledem ist alles nach menschlichen Vorstellungen perfekt inszeniert.

Aber was wird im Theaterstück „Goldberg-Variationen“ originell gedacht oder neu inszeniert? Ausgerechnet die religiöse Freiheit und die Desavouierung irgendwelcher Kanons. Es scheint, dass Tabori eben dieses Tabu der religiösen Freiheit entlarven will, das Herauskommen aus dem Klischee, wohl wissend, dass die Menschen noch in den Anfängen ihrer öffentlichen Bekenntnisse stecken. Sie brauchen mehr eine Wahlfreiheit in Sachen der Religion zu wagen. Darum muss man variieren, diversifizieren, die eingeschränkten Schablone wegwerfen.

So erlaubt sich der Regisseur in Taboris Stück,  mit der überlieferten Geschichte zu jonglieren. Diesmal tötet Abraham seinen Sohn Isaak, nur um zu verdeutlichen, dass die alten, in diesem Fall, auch die biblischen Geschichten als erdichtet zu betrachten sind. Die Geschichte wird regelrecht umgekrempelt. Hier einige Beispiele: Statt dem Apfel dient eine Banane als „verbotene Frucht". Eva betrachtet den ersten Schöpfungstag als Desaster, die Schöpfung als eine Blamage. Das Paradies sieht wie ein Freudenhaus aus. Eva kommt als ehemalige Stripperin daher, die  nun als Superstar durch Siebenbürgen tourt. Als Moses mit den Zehn Geboten vom Berg Sinai herabsteigt, wird er von den „Hells Angels" halb tot geprügelt.

Regisseur Muller bietet dem Publikum kurz vor Ende der Vorstellung die Möglichkeit, die Bühne zu betreten sich mit dem Blick auf die nun leeren Stühle zu setzen und alles hautnah zu erleben, was sich sonst hinter der Bühne ereignet.  Von nun an erlebt das Publikum die Enttarnung der Theaterkunst, der Geschichte, der Genesis. Alles endet mit einer verblüffenden Parodie auf die Kreuzigung, eine verblüffende Parodie beenden die Geschichte.    

Was bleibt? Eine Feststellung: der Mensch – Homo sapiens, Homo creator, Homo ludens,  Homo viator, Homo faber, wie auch immer,  ist vor allem eine Metapher. Seine Geschichte ist immer wieder umzudeuten oder umzuformulieren.

Dragoș COJOCARIU

 

Mit Die Goldberg-Variationen" des großen jüdischen Theatermachers George Tabori in der Regie von Charles Muller brachte die deutsche Abteilung des Radu Stanca-Nationaltheaters die erste Premiere der neuen Spielzeit auf die Bühne. Unser Bild: Szenenfoto mit Krista Birkner vom Berliner Ensemble (hier in der Rolle der Putzfrau Mrs. Mopp") und Daniel Plier (Goldberg).                Foto: Dragoș DUMITRU

Veröffentlicht in Aktuelle Ausgabe, Theater.