Ausgabe Nr. 2435
Streiflichter der Indoor-Vorstellungen beim Theaterfestival
Es ist das drittgrößte Theaterfestival Europas. Nach Edinburgh und Avignon ist Hermannstadt nun schon seit mehreren Jahren auf der Landkarte der internationalen Theaterfestivals markiert. In Zahlen ausgedrückt bedeutet das Festival: Zehn Tage, 65.000 Zuschauer täglich, 2.500 Künstler und Gäste aus 70 Ländern der Welt, 427 Veranstaltungen an 67 verschiedenen Orten in und um Hermannstadt. Theaterliebhaber reisten auch heuer von überall aus dem In- und Ausland nach Hermannstadt, um an diesem Riesenevent teilzunehmen.
Die Stadt ist in diesen Tagen, in diesem Jahr vom 12. bis 21. Juni im Ausnahmezustand. Betrachtet man dies im positiven Sinne, heißt das, wie es Bürgermeisterin ad interim Astrid Fodor so schön ausdrückte: „Das Festival bringt die Hermannstädter Gemeinschaft dazu, sich zu treffen und zu kommunizieren.“
Um Kommunikation und Sprache ging es im weiten Sinne auch im ersten Theaterstück des Festivals auf der Bühne des Radu Stanca-Nationaltheaters. „Muttersprache Mameloschn“ war mit Abstand – davon kann nicht nur der volle Saal und der Stehapplaus am Ende zeugen – der Höhepunkt des ersten Festivaltages.
Aufgeführt von drei sympathischen Schauspielerinnen des Deutschen Theaters aus Berlin, unter der Regie von Brit Bartkowiak wurde das Stück mit dem komischen Titel sehr gut vom Publikum aufgenommen. Zur Aufklärung: „Mameloschn“ ist das jiddische Wort für Muttersprache. Letztere spielt jedoch eine eher untergeordnete Rolle im Stück. Vielmehr geht es darin wie es Marianna Salzmann, die Autorin des Stückes selber in einem Interview ausdrückte, um die „Wut und die Denkfehler, die von Generation zu Generation weitergegeben werden, damit die Jüngeren die entlarven und versprechen alles besser zu machen, dann selber scheitern.“ So stehen Großmutter (Gabriele Heinz), Mutter (Anita Vulesica) und Tochter (Natalia Belitski) auf der Bühne – die Holocaustgeneration, die traumatisierte Generation danach und die identitätssuchende junge Generation von jetzt. „Die Struktur der Stückes ist nicht linear, sondern sprunghaft,“ wie Ulrich Beck, der Dramaturg des Stückes, der die Schauspielerinnen begleitete, erklärt, und genau diese Tatsache macht viel von dem Reiz der Inszenierung aus. Amüsiert wurden die Zuschauer durch die vielen Judenwitze, die von der Tochter erzählt wurden. Die immer aktuelle Frage der Identität, Zugehörigkeit und Heimat ist Hauptthema des Stückes, dazu kommt noch die Frage der Freiheit.
Ein Gefühl von Freiheit vermittelte auch der bewundernswerte Tanz des Derwischs, den Ziya Azazi, der sich auch die Choreographie ausdachte, interpretierte. Die einstündige Tanzvorstellung fand im Gong-Theater gleich zwei Mal am Samstag, den 13 Juni statt. Die schwindelerregende Performance ließ viele Zuschauer ins Staunen geraten.
Ebenfalls im Gong-Theater konnten sich die Theaterliebhaber am 14. Juni auf „Die Reise nach Petuschki“ machen. Das Stück, das im Programmheft unter dem Titel „Moscova mahmură“ zu finden war, konnte allerdings nicht alle Zuschauer begeistern. Die beiden Schauspieler Jasna Fritzi Bauer und Daniel Sträßer vom Burgtheater Wien versuchten oftmals vergeblich mit dem Publikum zu kommunizieren, englisch wie deutsch, bekamen jedoch nur selten eine Antwort. Wenedikt Jerofejews Roman setzte die Regisseurin Felicitas Braun in Szene. Wenja (Daniel Sträßer) ist zwar der Protagonist des Romans, doch durch den übertriebenen Alkoholkonsum spielen seine Halluzinationen allerdings zusehends die Hauptrolle. Für sämtliche Nebenfiguren und Fabelwesen ist Jasna Fritzi Bauer zuständig. Sie sorgt mit einem Overhead-Projektor für das Licht und bemalt die darauf liegenden Folien. Bauer wechselt immer wieder die Verkleidung, versorgt den Reisenden literweise mit Alkohol, verteilt die Requisiten auf der Bühne und lässt es sogar schneien. Währenddessen philosophiert Daniel Sträßer über Sozialdemokratie oder darüber ob Goethe ebenfalls ein Alkoholiker gewesen war und singt „All The Things She Said“ der russischen Band „Tatu“.
Der Höhepunkt des Sonntags (14. Juni) war die Inszenierung der Komödie „Der Besuch der alten Dame“ von Friedrich Dürrenmatt und unter Regie von Armin Petras vom Schauspiel Stuttgart. Genialerweise transportierte Armin Petras das Stück in eine ostdeutsche bankrotte Kleinstadt (es hätte auch eine rumänische Kleinstadt sein können), nach der Wende. In die Trostlosigkeit platzt Clara (Astrid Meyerfeldt), die vor dreißig Jahren, unehelich hochschwanger, in Schimpf und Schande aus der Stadt vertrieben wurde, doch heute unermesslich reich ist. Sie will sich rächen. Denn Alfred Ill (Andreas Leupold) hat damals nicht nur seine Vaterschaft verleugnet, sondern sie „beim Staat“ denunziert, dass sie ein Kind vom Klassenfeind austrage. Dieser Verrat hat Clara nicht nur das Kind gekostet, das ihr weggenommen wurde, sondern auch jegliches Gefühl. Kalt und herzlos setzt sie ein Kopfgeld aus: eine Milliarde für den Tod ihres ehemaligen Geliebten. Und die Moral der Kleinstädter im Osten beginnt Schritt für Schritt zu bröckeln.
Aus der Menge der Schauspieler, die auf der Bühne des Gewerkschaftskulturhauses zu sehen waren, stachen der Polizist (Paul Grill) und der Bürgermeister (Robert Kuchenbuch) hervor. Letzterer kommunizierte mit dem Publikum auf rumänisch, was die Atmosphäre sichtlich auflockerte. Die Spielfreude der Schauspieler und der groteske Humor machten das Schauspiel zu einem Genuss für das Publikum, das sich mit Standing Ovation bedankte.
Am Montag, den 15. Juni, luden die Kanadier von „The Old Trout Puppet Workshop“ zu einem erfrischend lustigen Puppentheater in den Saal des Octavian Goga Lyzeums ein. Drei Männer, Judd Palmer, Peter Balkwill und Pityu Kenderes legten in dem Stück „Ignoranz“ („Ignorance“) eine wunderbare Performance mit verschiedenen Puppen ab. Die Frage, die während des Schauspiels des Öfteren gestellt wurde, war jene nach dem „Streben nach Glück“ des Menschen. Adam und Eva sind Steinzeitmenschen einfachen Geistes, doch als Eva Phantasie entwickelt, ändert sich ihr Leben, denn nun erkennen die beiden wie wunderbar ihr Leben sein könnte. Die Handlung springt von den Mammut jagenden Steinzeitmenschen in die Gegenwart der unzufriedenen, Selbstmord gefährdeten Menschen, die auf künstliche Weise ihr Glück zusammenbasteln. Die drei Puppenspieler waren als Nashörner verkleidet und mit vollem Körpereinsatz auf der Bühne dabei. Die anderthalbstündige Performance war keine Sekunde langweilig, die Zeit verging wie im Flug.
Das kann man von der Theatervorstellung „Nathan der Weise“, einer Zusammenarbeit zwischen dem Schauspiel Stuttgart und dem Radu Stanca-Theater, unter der Regie von Armin Petras, nicht sagen. Erstens: Lessing selbst wäre nicht begeistert gewesen, auf der Bühne von einem der Hermannstädter Schauspieler auf Rumänisch verflucht zu werden. Zweitens: Der Sprachenwirrwarr – es wurde auf Deutsch, Rumänisch und Englisch gesprochen – war selbst für die Schauspieler eine Qual und die Zuschauer waren sprachlich überfordert. Drittens: Hätte man das Überflüssige – wie z.B. minutenlange Schreiattacken – aus der Vorstellung gestrichen, hätte der Zuschauer nach einer Stunde den Saal verlassen können. Das Stück dauerte so zweieinhalb Stunden mit Pause. Einen Pluspunkt muss man der Vorstellung allerdings geben: Marius Mihalache war eine Sensation auf dem Zymbal und hätte einen separaten Applaus nur für sich allein verdient.
Das Theaterfestival geht bis Sonntag, den 21. Juni, weiter und wird sicherlich noch einige, hoffentlich positive, Überraschungen beinhalten. Dabei darf man nicht vergessen: Theater darf alles.
Cynthia PINTER
Foto 1: Szenenfoto aus „Besuch der alten Dame" von Friedrich Dürrenmatt (Regie: Armin Petras) mit dem ausgezeichneten Ensemble von Schauspiel Stuttgart (v. l. n. r.): Astrid Meyerfeldt, Paul Grill, Robert Kuchenbuch, Christian Schneeweiß, Manolo Bertling, Sandra Gerling und Rahel Ohm.
Foto 2: Szenenfoto aus dem Puppenspiel „Ignoranz" (Kanada).
Foto 3: Jasna Fritzi Bauer (rechts) füllt Daniel Sträßer in „Die Reise nach Petuschki“ (Burgtheater Wien) richtig mit Wodka ab…
Fotos: Cynthia PINTER