„Wir sind ratlos damals und heute“

Teile diesen Artikel

Ausgabe Nr. 2413
 >

Predigt von Bischof Reinhart Guib im Gedenkgottesdienst zu 70 Jahren seit der Russlanddeportation

 

70 Jahre Russland-Deportation! 75 Jahre Beginn und 70 Jahre  Ende des  Zweiten Weltkrieges! Wie viel Vernichtung und Zerstörung, wie viel Leid und Not haben diese Jahre und ihre Folgen über die ganze Welt und besonders Europa gebracht. Einen langen Bericht über die Millionen Menschenleben und Güter, die massenweise und aufs grausamste vernichtet wurden, möchte ich nicht bringen. Denn es könnte sein, dass wir erschüttert von so viel Leid und Not fast vergessen können, dass wir und unsere deutsche und evangelische Gemeinschaft von diesem Leid auch selbst betroffen oder mit betroffen wurden. Wer ist denn unter uns von dem Leid, dass der letzte Weltkrieg über die Menschen brachte verschont geblieben? Die Erlebnisgeneration sind unsere Mütter und Väter, Großmütter und Großväter, Brüder und Schwestern, Onkel und Tanten, von denen die meisten inzwischen verstorben sind, einige aber noch unter uns leben. Durch sie sind auch wir auch nach 70 Jahren mit betroffen und haben auch heute zu tragen an dem, was an Elend und Leid und als Folge, an Trennung und Auswanderung auf unser Volk zugekommen ist und bis heute in den Seelen und Leibern und in unserer Geschichte Wunden hinterlassen hat. Wenn ich über die Gemeinden fahre, höre ich heute noch die Alten von den schweren Zeiten erzählen und merke, dass auch die Zeit nicht alle Wunden heilt und Herzen auch heute verbittert sind und Leben ohne Zukunftsperspektive vorhanden ist.

Die Erlebnisgeneration und wir heute fragen uns nach dem Sinn eines Krieges, einer Deportation und dieser Tage auch nach dem Sinn von terroristischen Gräueltaten wie sie in Paris Schrecken und Entsetzen verbreitet haben und nach dem Sinn von Kriegen in der Ukraine, in Syrien, im Irak und an vielen anderen Orten.   Das Fragen, wie Gott das zulässt, dass so viele unschuldige Menschen heute wie damals leiden und sterben hat nicht aufgehört. Womit haben diese und womit hatte unser Volk vor 70 Jahren diese Strafe verdient?

Wir sind ratlos damals und heute. Aufgrund der  Heiligen Schrift wissen wir aber, dass nicht Gott die Ursache des Bösen ist. Er hat uns Menschen so lieb, dass er uns seinen Sohn zu Weihnachten in diese Welt und in unser Menschsein gesandt hat. Um diese Liebe zu uns zu bekräftigen hat er seinen Sohn am Kreuz leiden und sterben lassen und alles hinweggenommen, was uns von ihm trennt. Ja, noch mehr, er hat uns unser Leben geschenkt und uns einen freien Willen gegeben, uns für ihn und das Leben und alles Lebensfördernde zu entscheiden oder gegen ihn und lebenszerstörerisch zu wirken. Auch wenn wir auf dieser Welt vor zerstörerischen Kräften nie sicher sind – wir können was dagegen tun, indem wir nicht vergessen, uns erinnern, gedenken, Gott vertrauen und Fürbitte tun. Gott hat Gedanken des Friedens mit uns und nicht des Leides. Er ist uns gerade in der tiefsten Not am nächsten. Wir dürfen auch Dank sagen, dass dies viele erfahren haben vor 70 Jahren, vor 60, vor 35, vor 25 Jahren und auch heute.

Von dieser Erkenntnis, dass Gott in tiefster Not uns am nächsten ist, war der Apostel Paulus erfüllt, als er der Gemeinde in Korinth schrieb. Die Gemeinde war durch mancherlei Gerüchte und falsche Lehren in Verwirrung geraten. Sie nahm Anstoß daran, dass Paulus, der sich ein Diener Jesu nannte, die ganze Zeit über mit größten Schwierigkeiten zu kämpfen hatte und dass er dauernd verfolgt und immer wieder entsetzlich misshandelt wurde. Sie konnten irdisches Leid eben nur als Strafe Gottes für begangene Sünden verstehen und glaubten darum, es müsse wohl auch bei Paulus in dieser Beziehung etwas nicht in Ordnung sein. Darum sieht sich der Apostel genötigt, ihnen den tiefen göttlichen Sinn seines Leidens zu offenbaren. Er muss ihnen zeigen,  wie ein Rest seines Selbstvertrauens ihn hinderte, sich ganz Gott anzuvertrauen und wie Gott es zulässt, dass er in schwerste Todesnot gerät und so diese für ihn zur Lernstunde, zur Schule des Leidens und des Lebens wird, sein Vertrauen nicht auf sich selbst und die eigene Kraft und Macht zu setzen, sondern auf Gott. Grenzerfahrungen können zur Lernstunde werden. Aber sie können auch zum Verhängnis werden.

Vor 70 Jahren sind über 75.000 Deutsche aus Rumänien, davon über 30.000 aus unseren Reihen mit der Russland-Deportation in mancherlei äußere Bedrängnis wie Kälte, Hunger, Krankheit, Misshandlung gedrängt worden. Sie waren gewiss willens, dagegen anzukämpfen. Unser Wille ist viel wert. Wer unter uns kann denn nicht davon erzählen, dass wo ein Wille, auch ein Weg ist. Wir haben das auch selber erlebt. Ein starker Wille überwindet auch große Schwierigkeiten und hilft so manche Lage zu meistern. Aber es reicht nicht immer. Jeder siebente unserer verschleppten Vorfahren kam nicht mehr heim. Trotz ihrer Stärke und ihres festen Willens in die Heimat und zur Familie zurückzukehren. 

Was bleibt denn, wenn man z. B. bei 30 Grad unter Null, im schärfsten Schneesturm draußen den Schnee von den Eisenbahnschienen schaufeln muss, die Glieder einem zu gefrieren drohen und die Kraft zu Ende geht? Es bleibt einem dann noch der Weg zu Gott. „Nie werde ich vergessen“ schreibt ein Rußlanddeportierter, „wie wir in einer Nacht nicht mehr arbeiten konnten und die ersten weniger dick gekleideten unter uns anfingen, zusammenzufallen. Helfen konnte keiner mehr.  Wir waren alle am Ende unserer Kraft. Als mir ein Kamerad im wehenden Sturmwind zurief: 'Diesmal sind wir am Ende', da wurde mir das Ausmaß der Bedrohung klar und ich rief in den Wind: 'Hilf uns doch lieber Gott, wir können wirklich nicht mehr.' Und ich weiß, dass ich nicht der einzige war, der so betete. Wenn ich nun sage, dass in weniger als in einer halben Stunde der kalte schneidende Wind aufhörte und ein warmer Wind einsetzte, dass dann ein Aufseher uns zu einem Schmelzofen führte, wo wir uns gut wärmen konnten, dann werden einige sich denken, ja, das Wetter hätte sowieso umgeschlagen und schließlich hat auch der härteste Aufseher einmal ein Einsehen. Wir aber, die wir das erlebt haben, wissen, dass solche Hilfe von Gott kommt. Und ich werde das so oft gebrauchte Sprichwort: 'Wenn die Not am größten ist Gottes Hilfe am nächsten' nie mehr gebrauchen, ohne mich daran zu erinnern, was es heißt, von Gott aus wirklicher Not gerettet zu werden.

Und wenn ich  nun noch sage, dass 30 km von uns entfernt in derselben Nacht eine Gruppe von Mädchen aus der Repser Gegend in derselben Lage waren – sie hatten sich, um sich einigermaßen zu schützen, zu einem Haufen zusammengedrängt – und dass sie nach dem Wetterumschlag wie aus einem Mund 'Großer Gott wir loben dich' anstimmten, dann werdet ihr verstehen, dass in dieser Nacht, in der Tausende von uns die verwehten Bahnschienen vom Schnee freischaufeln mussten, nicht nur für den Einzelnen, sondern für unser ganzes Volk etwas großes geschehen ist.“  Soweit ein Erfahrungsbericht.

Liebe Gemeinde! Wer Gottes Hilfe so oder anders erfahren hat, der bleibt von Gott angerührt. Er wird Gott aus vollem Herzen danken und sein Leben gerne Gott anvertrauen. Wie der Apostel Paulus so haben auch die Geretteten und Rückkehrer aus Russland und viele nach ihnen auf die eine oder andere Weise erfahren, dass Gott groß ist und barmherzig. Die Dankbarkeit über erlebte Bewahrung und Hilfe im Leben führt zum Dankgebet und zum Gebet für andere. Wie viele Gesangbuchverse, wie viele Gebete, wie viele Bibelworte haben sich doch vor 70 Jahren, vor 60, vor 35 oder 25 Jahren und bis auf den heutigen Tag bewährt? Gott kann trösten und wieder aufrichten. Wer von Gott getröstet wurde, kann anderen zum Tröster werden. So dürfen wir dankbar sein, dass viele unserer Heimkehrer ein neues Leben beginnen konnten und Vorbilder im Glauben wurden, wie sie vormals Vorbilder im Leiden waren.

Unserem Volk und unserer Kirche wurde dank Gottes Barmherzigkeit und Gnade durch die Schule des Leidens, durch Deportation, Trennung und Auswanderung hindurch, eine neue Chance zuteil. Unsere Generation und die unserer Kinder dürfen heute sehen, wie – langsam, aber unumkehrbar – unsere zertrennte Gemeinschaft von Ost und West wieder zusammenfindet und zusammenwächst. Sie findet im Ausland immer mehr Anerkennung und nun durch die Wahl unseres Präsidenten auch in unserem Land. Gott geht den Weg mit unserer Kirche und unserer Gemeinschaft weiter. Er hört und erhört unser Gebet.    Er macht uns stark, für die Leidenden zu beten.

Die Männer und Frauen vor 70 Jahren haben stellvertretend für uns und alle am Krieg Schuldigen gesühnt und auch mit dem Leben bezahlt. Ihnen sind wir es schuldig in Ehrfurcht und Anerkennung ihrer zu gedenken. Ihnen und allen ihren Angehörigen gehört heute unser Mitgefühl und unser ehrliches teilnahmsvolles Gedächtnis. Die Toten und die Lebenden rufen uns zu und mahnen uns zum Frieden und zur Versöhnung, zur Verständigung und Zusammenarbeit, damit sich eine Russlanddeportation, ein Paris- Attentat, ein gegenseitiges Töten in der Ukraine, in Syrien, im Irak nicht wiederholen und unsere nachkommenden Generationen in Frieden und Eintracht leben können.

Wir wollen heute aber nicht nur des bitteren Leides unseres Volkes gedenken, sondern  uns auch sagen lassen: Gottes Güte ist größer als unser Leid. Er ist uns nahe und lädt uns ein zum vollen Vertrauen auf ihn. Er will uns vom Gedenken zum Glauben führen. Von der Bewahrung zum Dank und Gebet für die, die es brauchen. Aus der Geschichte in seine Zukunft. Amen. 

 

 

Bischof Reinhart Guib auf der Kanzel in der evangelischen Stadtpfarrkirche Hermannstadt.

Foto: Fred NUSS

 

Veröffentlicht in Aktuelle Ausgabe, Gesellschaft, Kirche.