Ausgabe Nr. 2408
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Zur Premiere des Dokumentarfilms „1989 – Poker am Todeszaun" in Berlin
Eine magische Zahl, ein magisches Datum, ob gut oder böse, scheint der 9. November des vorigen Jahrhunderts in Deutschland zu sein. Ein wichtiges Gedenkdatum sowieso. 1938 nahm die Hetzkampagne gegen die jüdische Bevölkerung seinen Lauf. Synagogen im Land wurden in der Nacht vom 9. zum 10. November angezündet, Geschäfte jüdischer Bürger zerstört und geplündert, Reichskristallnacht wurde dieses Verbrechen genannt. Viele andere Pogrome gingen voraus und weitaus mehr und grausamere danach. Eine Schmach der deutschen Geschichte. Der Mauerfall am 9. November 1989 dagegen eine großartige Tat für Deutschland und die europäische Welt ohne Blutvergießen und ohne Krieg.
Im Oktober 1956 gingen ungarische Studenten auf die Straße, wollten eine veränderte Politik und in einem freien, westlich orientierten Land leben. Es kam zu großen Demonstrationen, russische Panzer rollten ein, überrollten die Freiheitswünsche der Bürger, setzten dem Ungarnaufstand ein Ende, tausende von Menschen starben, abertausende flohen aus dem Land in den Westen. Imre Nagy, der damalige Ministerpräsident, der aus Südtransdanubien stammte, sympathisierte mit den Bürgern, wurde erhängt und mit vielen anderen zusammen verscharrt! Unter der Regierung des jungen Ministerpräsidenten Miklos Németh wurde Nagy gegen den Willen der kommunistischen Riege 1989 rehabilitiert und zum Nationalhelden ernannt.
Am 8. November 2014, einen Tag vor den offiziellen Feierlichkeiten zum Fall der Mauer in Berlin 1989, kam Miklos Németh, der frühere Ministerpräsident der Ungarischen Volksrepublik nach Berlin und war Gast im Kino International in der Karl-Marx-Allee. „Sein“ Film „1989 – Poker am Todeszaun" sollte Premiere haben. Die Gebrüder Beetz-Filmproduktion in Berlin hatte gewagt, diesen Film zu produzieren, der dänische Filmregisseur Anders Ostergaard und die in Ungarn geborene Erzsebet Racz schrieben das Drehbuch und Ostergaard drehte den Dokumentarfilm, der wie ein Politthriller die Gäste bannte. Die Protagonisten des Films waren ebenfalls gekommen.
Die kommunistischen Regimes klammerten sich an die Macht und viele von ihnen glaubten, der Kommunismus und ihre Ideologien würden ewig existieren. Der junge Miklos Németh, der Wirtschaftswissenschaft studiert hatte, wurde 1988 zum Ministerpräsidenten gewählt und spöttisch als „Buchhalter“ in seinem Parlament betitelt. Auch in Ungarn kriselte es nicht nur politisch. Das Land der Magyaren war pleite. Für die Erneuerung des Signalzauns zu Österreich, zum Burgenland, war kein Geld vorhanden, Kredite aus dem Westen wären erforderlich gewesen. Németh wollte keine erneuten Kredite, aus dem Warschauer Pakt wollte er aussteigen, sein Land öffnen und seinen Bürgern die ersehnte Freiheit geben! Noch waren die Sowjets die eigentlichen Herrscher in Ungarn, erzählte Németh beiläufig. Als junger Mann mit 20 Jahren war Miklos Németh in die Kommunistische Partei eingetreten, wollte sich dem System anschließen. Der Vater in Monok, im Norden des Landes, sprach sechs Monate nicht mit ihm, dem Sohn. Wie Jesus und Judas kam sich Nemeth damals vor, erinnert er sich nach vielen Jahren. Als er in die Politik ging, gab der Vater dem Sohn die Worte mit auf den Weg:
„Vergiß niemals, woher Du kommst. Sag’ die Wahrheit dem Volk und der Welt. Wenn Du nicht lügst, können Deine Mutter und ich erhobenen Hauptes durchs Dorf gehen!“
Miklos Németh war 1948 in Monok in Nordungarn geboren worden, die Familie der Mutter waren eingewanderte Schwaben aus der Nähe von Ulm. Maria Theresia hatte die Siedler vor dreihundert Jahren ins Land geholt. Lajos Kossuth, der ewige Nationaldheld der Ungarn, stammte ebenfalls aus Monok.
Bei den Sowjets haben die Menschen wenig Wert, Stalin hat viele Menschenleben auf dem Gewissen, erzählt der ehemalige Ministerpräsident Ungarns. Michail Sergejewitsch Gorbatschow stammt aus dem Nordkaukasus, hatte viele Ämter in der kommunistischen Regierung der Sowjetunion, später war er Generalsekretär der KPdSU und nicht zuletzt Staatspräsident. Der junge Politiker Miklos Németh reiste kurz entschlossen im März 1989 nach Moskau zu ihm, der eine neue politische Richtung einschlug und den Kalten Krieg zwischen Ost und West beenden wollte. Eine Idee, die bis heute nachhält! Keine Umarmung, keinen Bruderkuss, nur eine Handreichung genügte den beiden Politikern beim Treffen im Kreml, um Vertrauen herzustellen. Gorbatschow rügte und lobte den jungen Politiker, nannte seine Politik in Ungarn voreilig. Beharrlich eröffnet Neméth seine Pläne, die Grenzen zum Westen zu öffnen. Er wusste auch, dass die Feinde in Ost-Berlin, Rumänien und der Tschechoslowakei nicht mitmachen würden, auch in Sofia saß kein Freund. Michail Gorbatschow stimmte seinem Vorhaben zu!
Der Parteichef in Ungarn und Ministerpräsident Németh waren unterschiedlicher Meinung, kamen politisch nicht überein. „Wanzen“ wurden im Parlament in Budapest heimlich installiert, die bis nach Moskau reichten. Mit seinen engsten Mitarbeitern traf sich Németh zu Gesprächen an der Donau! Morddrohungen gab es von den Widersachern. Die politische Situation spitzte sich zu. Wie fest sitzt Gorbatschow im Sattel? Niemand wusste es so recht.
Der Stacheldraht zum Burgenland, dem östlichsten Bundesland Österreichs, wurde demontiert und für kurze Zeit geöffnet. Erich Honecker in Ost Berlin sah das als Untergrabung seiner Macht! Die DDR-Bürger erfuhren von der Tat der Ungarn und sahen darin eine Möglichkeit, in den Westen flüchten zu können. Kurt Werner Schulz aus Weimar und seine Frau Gundula hegten schon lange Fluchtgedanken. Das Paar machte sich mit dem kleinen Sohn auf den Weg in Richtung Sopron. Heerscharen von DDR-Bürgern campierten auf Plätzen, in Wäldern und an Straßenrändern, um eventuell eine Lücke im Zaun zu erwischen. Sie wussten nicht, wohin „die Reise“ geht und zweifelten an der Wahrheit, sie saßen auf einem Pulverfass, doch auch Chancen sahen sie. Dem jungen ungarischen Ministerpräsidenten trauten sie eine Veränderung zu, doch die Meinung könnte sich blitzschnell ändern. Würden die Ungarn die Grenzen wieder schließen? Neméth wollte die Hoffenden nicht zurück in die DDR schicken. Jahrelang hatten die Ungarn es getan. Gefängnisse oder Repressalien jedweder Art erwarteten die Zurückgeschickten in ihrem Land. Das Paneuropäische Picknick, die Friedensdemonstration im August 1989 war ein voller Erfolg. Mit Gulasch und viel Wein wurde gefeiert, die Grenze zwischen Ungarn und Österreich war tagelang offen und einige DDR-Bürger flohen. Németh meinte, dass damit die Toleranzschwelle der Sowjetunion getestet werden sollte. Kein Telefonanruf kam aus Moskau, der Sowjetische Botschafter in Budapest regte sich auch nicht. Stillschweigen!
Er, Miklos Németh, wollte sein Land in eine neue Ära führen, doch ihm selbst war nicht ganz klar, wie das funktionieren sollte. Opposition gab es ebenso und nicht wenig, erzählte er.
Die Familie aus Weimar wird nachts bei Mondschein von einem Einheimischen zur Grenze begleitet, die Silhouette des Dorfes im Burgenland ist zu erkennen. Bei den ungarischen Grenzsoldaten herrschte Verunsicherung. Minuten später wird Kurt Werner Schulz bei seiner lang ersehnten Flucht erschossen, seine Frau und sein kleiner Sohn kommen im Westen an, im Burgenland. Eine große Dramatik für Gundula Schulz, während der überschwänglichen Freude, die andere DDR-Bürger nach ihrer gelungenen Flucht hatten. Der Poker am Todeszaun hatte sein letztes Opfer auf dem Weg zur politischen Wende gefordert.
Hin und Her ging es wochenlang um die Frage, ob man die Grenzen offiziell öffnen solle oder nicht. Miklos Németh ließ am 25. August 1989 auf Schloss Gymnich unweit von Bonn im Gespräch mit Bundeskanzler Helmut Kohl die „Bombe platzen“. Die Grenz-
öffnung von Ungarn nach Österreich sei beschlossene Sache! Am 9. November 1989 wurde die Berliner Mauer gestürmt und der Eiserne Vorhang fiel. Nach 25 Jahren erhielt Miklos Németh für seine Verdienste um die Einheit Deutschlands und Europas an der thüringisch-hessischen Grenze den Point Alpha Preis.
Miklos Németh geht im Kino International nach dem Ende des hochinteressanten Dokumentarfilms, auf Gundula Schafitel, die Witwe von Kurt Werner Schulz zu, begrüßt sie und schließlich umarmt er sie. Eine große Geste, eine berührende Szene. Sie haben sich nie zuvor getroffen!
Wie sicher saß Gorbatschow damals im Sattel? Niemand wusste es 1989. Was wäre geworden, wenn Gorbatschow bei einem Staatsstreich gestürzt worden wäre? Wäre es in den Warschauer Pakt Staaten zu einem blutigen Krieg gekommen? Wären Köpfe gerollt und welche? Ich möchte kaum darüber nachdenken, auch nicht daran denken, was geworden wäre, wenn…!
Christel WOLLMANN-FIEDLER
Miklos Németh (vordere Reihe, 2. v. l.) und das Filmteam vor dem Kino International.
Foto: die Verfasserin