Ausgabe Nr. 2402
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Vier Filmempfehlungen im Nachfeld des Astra Film Festival
Vom 6. bis 12. Oktober d. J. liefen hunderte Filmfans durch die Hermannstädter Altstadt. Von der Habitus Bücherei zum Thalia Saal, vom Gong Theater zum Astra Film Kino. Das älteste Dokumentarfilmfestival Rumäniens, das „Astra Film Festival“, ging in die 14. Runde. Am Samstag hat die internationale Jury 10 der 120 Filme prämiert. Doch: Für welchen Streifen lohnt sich ein Gang in die Videothek, eine Markierung in der Fernsehzeitung oder ein Besuch im Kino? Die Hermannstädter Zeitung kürzt noch einmal und präsentiert vier Filmempfehlungen.
1. „Maidan" (Regie: Sergei Loznitsa), Großer Preis der Jury. Majdan Nesaleschnosti, der zentrale Platz der ukrainischen Hauptstadt Kiew, wird kurz Maidan genannt. Die Abkürzung ist zum Symbol der Bürgerrevolution gegen das Wiktor Janukowytsch Regime geworden. Für die meisten westlichen Zuschauer war es eine televisionäre Revolution, die sich auf abendliche Beiträge in den Nachrichtensendungen beschränkte. Zwei Minuten verwackelte Handyaufnahmen und eine Offstimme die erklärt, was zu sehen ist und was passiert.
Jetzt präsentiert der russische Regisseur Sergei Loznitsa mit seinem Dokumentarfilm Maidan eine Chronologie der Ereignisse. Er platziert seine Kamera inmitten der Demonstranten und bricht dabei eine alte Regel des dokumentarischen Erzählens: Die Ereignisse werden nicht über ein Individuum greifbar gemacht, sondern bleiben eine kollektive Bewegung. Das gelingt und entwickelt eine ungeheure Dramaturgie: Vom gemeinsamen Singen der ukrainischen Nationalhymne zu blutigen Straßenkämpfen zwischen den Demonstranten und der Polizei. Mittags ein improvisiertes Essen in einer Sporthalle und abends brennenden Autos, auf die graukalter Schneeregen fällt. Keine Individuen, keine Einzelschicksale, nur die Bewegung der Masse. Sergei Eisenstein wäre stolz.
2. „Master Of The Universe" (Regie: Marc Bauder), Preis für die beste Dokumentation im internationalen Wettbewerb. 1987 lag der Schlussstand des Deutschen Aktienindex DAX bei genau 1.000,00 Punkten, der Franzose Michel Camdessus wurde Direktor des Internationalen Währungsfonds und ein Millionenpublikum beobachtet, wie Michael Douglas als Finanzhai Gordon Gekko Millionen von Dollar an der Wall Street scheffelte. 1988 erhielt Douglas für seine schauspielerischen Leistungen in Oliver Stones Filmklassiker „Wall Street" einen Oscar.
Auch wenn klar war, dass Gordon Gekkos Lebenslauf keine Erfolgsstory ist, besaß das Ganze einen gewissen Schick, dem man sich schwer entziehen konnte: Mit breitgestreiftem Hemd, Hosenträger und Zigarre im Mund schreit Gekko in ein grau-klotziges Schnurrtelefon – das hat was. Wer jetzt Banker sagt, der denkt nicht mehr an den Dinosaurier Gordon Gekko, sondern an Schlagwörter, die auf „-krise“ enden: Finanzkrise, Eurokrise und Griechenlandkrise.
Die Krise ist das zentrale Thema von Marc Bauders Dokumentarfilm „Master Of The Universe". Der einzige Schauplatz des Films ist ein leer stehender Wolkenkratzer im Frankfurter Bankenviertel, in dem der ehemalige Investmentbanker Rainer Voss ausgedehnte Monologe über die Finanzwelt und die Finanzkrise hält. Äußerlich liegen Welten zwischen Gorden Gekko und Rainer Voss, der auch Fleischer im Schwarzwald oder Fernfahrer aus der Uckermark sein könnte. Trotzdem sind es ähnliche Typen: karrierebeflissene Silberrücken, mit einem Hang zur Selbstinszenierung. Rainer Voss ist unauffälliger: kleine Plauze, rahmenlose Brille und weißer BMW-Kombi. Aber seine Augen haben den gleichen scharfen Blick wie Gekko, der gleiche kompromisslose Ehrgeiz. 2008 hat sich Voss aus dem Geschäft zurückgezogen und lebt seit dem mit seiner Familie als Privatier in Frankfurt. In der Dokumentation antwortet er mit der schulmeisterlichen Süffisanz eines Eingeweihten, der auf die großen Fragen aus den europäischen Kongresssälen schon abgebrühte Antworten hat: „Der Markt lernt nicht“ und „Banken können Staaten angreifen“.
Diese Analysen verraten natürlich mehr über Rainer Voss als über das Finanzsystem. Eine Einstellung ist paradigmatisch für den Streifen. Totale: Von zwei Säulen flankiert, steht Voss vor einem Panoramafenster im verlassenen betongrauen Gebäude. Mit dem Rücken zum Publikum und leicht gekrümmten Schultern blickt er auf die Glas- und Stahlriesen der Frankfurter Skyline. Das ist das Bild eines gestürzten Königs, eines überlebten Patriarchen, der auf das schaut, von dem er kein Teil mehr ist. Man weiß nicht, ob man Mitleid oder Genugtuung empfinden soll und genau hier liegt die große Leistung des Regisseurs. Mit jeder Einstellung wechselt er von Faszination zu Konsternation. „Master Of The Universe" ist weniger ein Dokumentarfilm, als die Dokumentarskulptur eines Bankers, auf dessen unscheinbaren Körper der Diskurs Finanzkrise projiziert wird. Absolut sehenswert. 2013 lag der Schlussstand des DAXs übrigens bei 9.552,16 Punkten.
3. „Blood" (Regie: Alina Rudnitskaya), Preis für die beste Dokumentation im europäischen Wettbewerb. Als Belonophobie wird die irrationale Angst vor Nadeln bezeichnet. Das kann alles sein, was spitz ist. Stecknadeln, Sicherheitsnadeln und nicht zuletzt Spritzen. Betroffene sollten sich darauf einstellen bei Alina Rudnitskayas „Blood" häufig die Augen zu schließen, denn folgende Einstellung zieht sich durch den Streifen: An einem Oberarm wird ein Stauschlauch festgezogen, der Unterarm wird desinfiziert, eine Kanüle dringt in die Vene ein und Blut fließt in einen Infusionsbeutel. Die Handlung ist bekannt und wird in den meisten westlichen Ländern sehr positiv bewertet: Blutspenden.
Für viele Russen ist Blutspenden zu einer ökonomischen Entscheidung geworden. Der Staat zahlt für einen halben Liter Blut 850 Rubel – umgerechnet 20 Euro. Und 20 Euro mehr oder weniger können einen über die Woche bringen. Die Blutspende wird für den Spender genauso überlebensnotwendig, wie die Transfusion für den Empfänger. Die Regisseurin begleitet einen mobilen Bluttruck durch die russische Pampa. Unkommentiert und in Schwarz-Weiß werden Routinen präsentiert, die nicht alltäglich sein sollten. Vormittags kommt das Blutteam in ein heruntergekommenes Dorf, meist eine alte Minenstadt mit hoher Arbeitslosenrate, die veralteten medizinischen Geräte werden aufgebaut, während sich eine lange Schlange vor dem Eingang bildet. Dann wird Blut gespendet, Rubel gehen über den Tisch und Menschen klappen zusammen, weil sie übermüdet sind, aus der Nachtschicht oder aus der Kneipe kommen und es sich nicht leisten können auf das Geld zu verzichten. Abends wird abgebaut, die Blutmenge errechnet und Wodka getrunken.
In reduzierten, unaufgehübschten Bildern zeigt Rudnitskaya was es heißt, wenn ein Ausnahmezustand zur Realität geworden ist. Blood ist ein wichtiger Film, der inhaltlich und bildsprachlich wie ein Faustschlag daherkommt. Nach dem Abspann scheint ein Wodka die erste Lösung zu sein, um zu verarbeiten, was da gerade passiert ist.
4. „Waiting For August" (Regie: Teodora Ana Mihai), Preis für den besten Dokumentarfilm im rumänischen Wettbewerb. Nicht nur cordhosentragenden Cineasten wird aufgefallen sein, dass in den letzten Jahren viele verdammt gute Filme aus Rumänien kamen. Das Phänomen wird als Neue Rumänische Welle (New Romanian Cinema) bezeichnet und lässt Feuilletonisten europaweit die Finger aus dem Tee nehmen und ins nächste Programmkino eilen. In den großen überregionalen Zeitungen werden meist rumänische Spielfilme gefeiert – zu Unrecht, wie das Astra Film Festival gezeigt hat, braucht sich der rumänische Dokumentarfilm nicht vor dem Spielfilm verstecken.
Der Beweis: „Waiting For August" ist ein herausragender sozialkritischer Film, gerade weil er sich von dem Attribut „sozialkritisch“ befreit. Sieben Kinder leben alleine in einer Plattenbauwohnung in Bacău. Ihre alleinerziehende Mutter ist mehrere Monate in Italien, um zu arbeiten. Während die 15-jährige Georgiana den Haushalt führt, ist die Mutter nur digital präsent, über Skype und Telefon. Das ist keine seltene Erscheinung in Rumänien: tausendmal gesehen, tausendmal gehört.
Das Besondere ist die unaufdringliche Inszenierung Mihais. Keine dröge Altherrenstimme, die das Geschehen aus dem Off kommentiert, keine larmoyante Musik, die dem Zuschauer verdeutlichen soll, dass eine eindeutig traurige Szene wirklich, wirklich traurig ist. Mihai filmt nicht mit erhobenem Zeigefinger. Sie dokumentiert eine soziale Erscheinung in den Plattenbauten Rumäniens mit einer respektvoll zurückhaltenden Kamera, die nicht bedingungslos auf das Geschehen hält, sondern Leerstellen lässt. Wichtiger als das Gezeigte, wird das Nicht-Gezeigte. Die Meinungsbildung liegt beim Zuschauer. Das ist stark und läuft hoffentlich bald im nächsten Programmkino.
Lennardt LOSS
Der Regisseur Cristi Puiu (rechts) gratuliert im Namen der Jury seinem russischen Kollegen Sergei Loznitsa zum Großen Preis der Jury.
Foto: Fred NUSS