Ausgabe Nr. 2397
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Jüngstes Festival in Hermannstadt ist der in Rumänien geborenen Pianistin gewidmet
„Noch ein Festival!" stöhnten einige, als die Ankündigung der ersten Auflage des Internationalen Clara Haskil-Festivals die Runde machte. Nach sechs Tagen Instrumentalmusik fragten sich viele Konzertbesucher: „War das alles? Wir wollen noch mehr hören!" Auf jeden Fall ist es bemerkens- und lobenswert, wie es die junge rumänische Pianistin Alina Azario, die heute in Hamburg lebt, versteht, ihrem Vorbild, Clara Haskil, eine Hommage darzubringen. Mit ins Boot holte sie namhafte Virtuosen wie den ungarischen Cellisten István Várdai, die französische Violonistin Marina Chiche und zwei ausgezeichnete rumänische Ensembles: Bucharest Symphony Orchestra und das Klausenburger Arcadia Quartett. Unsere Mitarbeiterin Doina Giurgiu bietet im Folgenden einige subjektive Einblicke in das Geschehen bei diesem Ausnahme-Festival:
September 2014, ein ruhiger und schöner Monat in einem hellen und warmen Hermannstadt. Das Gewimmel des Alltags trifft auf jeder Straße der Altstadt auf hunderte vergnügte oder überraschte Worte von Reisenden, die sich auf der Suche nach osteuropäischer Schönheit befinden, die Freunde rufen oder Limonaden und Strudel bestellen. Irgendwo, an einer Straße, die an eine Ansichtskarte von einem Urlaub im Westen erinnert, in einem Gebäude mit zwei Gesichtern und zwei Geschichten – eine alte von Jahrhunderten, die von Armbrustern bewacht wurden, und eine frische, von eleganter Würde – herrscht eine andere Art Bewegung.
Bei dem Gebäude handelt es sich um das alte Theater, heute Thaliasaal. Es ist der 2. September, der vierte Tag des Internationalen Clara Haskil-Festivals und alle warten ungeduldig auf den Auftritt des Stars des Festivals, den französischen Pianisten Adam Laloum, der Gewinner von 2009 des Internationalen Clara Haskil-Klavierwettbewerbs, der jedes zweiten Jahr in Vevey/Schweiz stattfindet. Laloum kommt dann doch nicht, er hat das Flugzeug verpasst und muss am nächsten Tag in die USA. Die Entscheidung fällt rasch: Die Violonistin Marina Chiche und die Pianistin Alina Azario, die eigentlich am Tag darauf konzertieren sollten, springen in die Bresche. Doch keinesfalls als Lückenbüßer: Chiche, die schon am ersten Festivalstag bei ihrem Auftritt mit dem Bucharest Symphony Orchestra, dirigiert von Tiberiu Soare, Stehapplaus bekommen hatte, spielt virtuos und unvergleichlich zwei Werke von Johann Sebastian Bach: die Sonate in G-Dur BWV1001 und die Partita Nr. 2 in d-Moll BWV 1004.
Im Vorfeld konnte man durch die Fenster des Proberaumes eine schlanke Gestalt erkennen, die fast mit dem massiven Klavier verschmilzt. Vielleicht hat sie die Probe beendet oder denkt noch über etwas nach. Die Regungslosigkeit hält nicht an und die Gestalt hebt sich plötzlich ab von dem Instrument, verändert ihre Form, lässt den langen Schatten der Hände erkennen, dann das klare Profil, aber nur für Sekunden, dann verwischt die Bewegung alle Details. Nun bleibt der Raum erstarrt zurück.
Nach dem Auftritt der französischen Violonistin herrscht im Saal Stimmengewirr, die Stühle knarren trocken. Alle sprechen über die Solistin, die gerade die Bühne verlassen hat: „eine wunderbare Violonistin".
Die Pause ist bald um: In den Kulissen hören sich die Echos aus dem Saal an wie unverständliches Gemurmel, das von der kompakten Dunkelheit aufgesogen wird, die nur von einem kleinen Lichtstrahl durchschnitten wird, der durch die Eingangstür fällt. Hier schwebt eine paradoxe Stille, ein gespanntes Warten. Plötzlich verdeckt eine hochgewachsene Gestalt diesen Lichtstrahl. Ihre Hände streichen über die Stirne, die Finger schlingen sich ineinander, man hört kurze, tiefe Atemzüge, die dann immer leichter und ruhiger werden. Der Kopf ruht in einem stillen Moment auf den Fingerspitzen, dann schnellt er plötzlich hoch, die Form des Schattens verändert sich und verschmilzt mit dem Weiß der Bühne, im schrill tönenden Beifall.
Die Töne steigen und fallen, sie vermischen sich aufstrebend, die Hände jagen einander, kreuzen sich, trennen sich wieder, streifen die Klaviatur hin und zurück, in einem schwindelerregenden Tanz, dem man nur verwandelt von der Kraft und dem Zauber einer vollkommenen Interpretation entkommen kann.
Wenn Leidenschaft in einer Sekunde überspringen kann, dann geschieht dies auf diese Weise: Man lässt sich überfluten von den Emotionen einer phantasievollen und warmen musikalischen Ausführung, die der Perfektion entsprungen ist. Und man verlässt den Konzertsaal mit zwei neuen Steckenpferden: der Musik von Claude Debussy und der Wertschätzung für deren Interpretin, Alina Azario, die junge rumänische Pianistin, für die das Konzertieren und das Organisieren eines Festivals so natürliche Dinge sind wie der Beifall eines begeisterten Publikums.
Und die Musik verklang nicht schon als Azario den letzten Finger von den Tasten hob, sondern erst viel später im Rascheln der Lindenblätter am späten Herbstabend.
Eigentlich hätte dieser Abend nicht übertroffen werden können. Die beiden Ausnahmeinterpretinnen belehrten am Abend darauf das Publikum eines Besseren, mit Werken von Johann Sebastian Bach, Claude Debussy, Béla Bartók, Dinu Lipatti und George Enescu.
Die liebevoll fließende Nokturne von Lipatti z. B. ist eine einzige Liebesgeschichte in warmen Tönen, welche die Tasten des Klaviers streicheln wie in einer Liebkosung. Zu ihnen gesellt sich ein dunkler Ton, der von alten Zeiten erzählt, deren Erinnerung nach Heilung heischt. Die letzte Note wird endlich frei gelassen, verschwindet in der Luft und lässt Enescu eintreten, dem das Talent bekanntlich in den Fingern pulsierte, und dessen Sonate für Violine und Klavier Nr. 2 in f-Moll kraftvoll und stets suchend daherkommt. Am fünften Festivalstag wurde das Duo Azario-Chiche mit minutenlangem Stehapplaus belohnt.
Alina Azario (links) und Marina Chiche danken dem Publikum.
Das Arcadia Quartett (v. l. n. r.): Ana Török, Răsvan Dumitru, Zsolt Török und Traian Boală. Fotos: Christel WOLLMANN-FIEDLER