Ausgabe Nr. 2394
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„Schicksale“ – ein spannendes Buch gegen das Vergessen
Wie haben die Deutschen in Rumänien das 20. Jahrhundert und den Anfang des neuen Jahrtausends erlebt? Welche unterschiedlichen Erfahrungen haben sie mit den Diktaturen des letzten Jahrhunderts gemacht? Wie haben sie die neue Freiheit und gleichzeitig den schmerzhaften Exodus der meisten Volksgenossen wahrgenommen? Auf solche Antworten rund 30 Interviews, die der Museumswissenschaftler Sören Pichotta in seinem Band „Schicksale – Deutsche Zeitzeugen in Rumänien" versammelt und veröffentlicht hat. Wie ein Fazit des ganzen Buches wirkt schon der Untertitel „Lebensmut trotz Krieg, Deportation und Exodus“.
Im Rahmen eines Forschungsprojekts der Evangelischen Akademie Siebenbürgen/EAS hat der Museologe aus Dresden über einen längeren Zeitraum eine Reihe von Interviews mit Angehörigen der deutschen Minderheit in Rumänien durchgeführt. Er hat Männer und Frauen unterschiedlicher Regionen und Konfessionen in Rumänien in Interviews zu deren Lebenserinnerungen und persönlichem Schicksal befragt. Es sind spannende, in manchem vergleichbare, in manchem aber auch sehr unterschiedliche Selbstwahrnehmungen des eigenen Lebens und des Erlebens von persönlichem Schicksal vor dem Hintergrund der großen Geschichte und Politik, die hier referiert werden.
Der vorliegende Band gibt insgesamt 30 Interviews dieses konfessions- und regionsübergreifenden Projekts wieder. Diese sind zurückhaltend bearbeitet, um Sprachfluss und Duktus der Interviewpartner beizubehalten. Diese einzigartige Dokumentation hat der Museologe für die Veröffentlichung ergänzt um eine Einführung zu Idee, Konzeption, Methodik und Durchführung des Projekts, einige Überlegungen zum Sinn der Oral History sowie ein Fazit als Zusammenfassung der Ergebnisse, in dem auch ein konzentrierter Überblick über die Lage der deutschen Minderheit in Rumänien enthalten ist.
Der mit zahlreichen historischen Fotos aus dem Leben der Gesprächspartner Pichottas und deren Herkunftsorten illustrierte Band berücksichtigt Banater Schwaben, Siebenbürger Sachsen, Deutsche aus der Bukowina, Bukarest und der Dobrudscha, Landler und Zipser gleichermaßen und stellt damit alle Gruppen der deutschen Minderheit in den Fokus. Der besonders innovative Ansatz besteht nun genau darin, dass das Interview-Projekt wie auch der vorliegende Band zur Ergebnissicherung weder konfessions- noch regionalspezifisch, sondern inklusiv konzipiert sind, also die verschiedenen deutschen Volksgruppen und Konfessionszugehörigkeiten der Deutschen in Rumänien gleichermaßen berücksichtigt.
Interessant ist, dass hier nicht auf die üblichen prominenten Repräsentanten der Volksgruppe zurückgegriffen wird, die sich ohnehin in den Medien und eigenen Veröffentlichungen zu diesen Fragen schon häufig geäußert haben, sondern auf eine Auswahl aus Menschen aus breiten Schichten. Zu den bekannteren Persönlichkeiten zählen Pfarrer i. R. Wolfgang Rehner (Hermannstadt), Inge Jekeli aus Mediasch und der Bukarester Journalist und Autor Hans Liebhardt.
Mit Methoden der „Oral History“ befragte der Museumswissenschaftler nun gezielt Angehörige der deutschen Minderheit in Rumänien nach Erinnerungen an die eigene Jugend und die Wahrnehmung der eigenen Lebenssituation in Rumänien vor und nach der Wende von 1989 bzw. dem Exodus der deutschen Volksgruppe aus Rumänien nach 1989. Es entstehen genauso beeindruckende wie bewegende Impressionen vom Leben als Angehöriger bzw. Angehörige der deutschen Minderheit in Rumänien, bei denen politische Einschätzungen und Hintergründe sowie kulturelle und konfessionelle Milieus ebenso fokussiert werden wie die eigene Lebensgeschichte vor dem historisch-politischen Hintergrund.
Die sensibel und tiefgründig geführten Interviews und das dokumentarische Fotomaterial bieten einen höchst willkommenen und exemplarischen Beitrag zur deutschen Erinnerungskultur in Rumänien. Die Überschriften der Interviews sind mit Bedacht gewählt und geben im Originalton wichtige Eindrücke der Interviews in der ganzen Bandbreite wieder, zum Beispiel von „Es ist alles vorbei“ über „Gott sei Dank ist die Wende gekommen“ und „Es gab die Nachbarschaften und keinen Televisor“ bis zu „Das Banat ist ein kleines, vereinigtes Europa“. Natürlich sind die Antworten der Interviewten oft subjektiv, manche historischen Einschätzungen einseitig und die Sicht anderer Volksgruppen gelegentlich stereotyp. Doch erlaubt dies umso mehr, manche Lebensläufe und damit verbundene Mentalitäten besser zu verstehen.
Der Band könnte jederzeit fortgeschrieben werden um einen Band mit Interviewten jüngeren Alters, die nach 1970 geboren und bewusst in Rumänien geblieben sind. Oder auch um einzelne Bände nach Regionen. Noch leben genügend Zeitzeugen, die mit ihren eigenen Erinnerungen ihren Beitrag zur deutschen Erinnerungskultur in Rumänien leisten können.
Jürgen HENKEL
Sören Pichotta: Schicksale: Deutsche Zeitzeugen in Rumänien. Schiller Verlag Hermannstadt/Bonn 2013, 294 S., ISBN 978-3-941271-90-6