Ausgabe Nr. 2380
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Neues Buch zeigt tiefgreifende Veränderungen an der innerdeutschen Grenze
Ja, dieses Jahr eignet sich bestens für Erinnerungskultur hierzulande. Jetzt in einem Buch öffentlich gemachte Bilder von der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze zeigen beispielsweise, wie grundlegend sich jene Stellen änderten, an denen einst wuchtige Sperranlagen standen und den Osten brachial vom Westen trennten. Mindestens ein Vierteljahrhundert liegen zwischen den damaligen und heutigen Aufnahmen. Der Fotograf Jürgen Ritter nutzte dafür sein umfangreiches Archiv.
Darauf sind durch DDR-Sperranlagen geprägte Landschaften zu sehen, die seit 1989 extreme Umbrüche erlebten. Einst reiste Ritter mit diesen das ostdeutsche System entlarvenden Dokumenten durch die alte Bundesrepublik. Er, der sich nie von dem gerade herrschenden politischen Zeitgeist blenden ließ, kämpfte immer gegen diese anormalen Zustände. Die Resonanz auf seine Ausstellungen war positiv. Er traf aber auch auf Widerstand. DDR-Behörden beäugten ihn mit Argwohn. Journalist Peter Joachim Lapp besticht in seinen das Bildmaterial ergänzenden Texten durch gewohnte Sachlichkeit und nüchterne Faktenfülle.
Rainer Eppelmann, ostdeutscher Bürgerrechtler sowie Vorstandsvorsitzender der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, hat noch immer Schwierigkeiten beim Überqueren der Trennlinien im ehemals zerschnittenen Land. In dem Vorwort zu dieser Ausgabe bekennt er, wie oft bei ihm bei Grenzgängen Erinnerungen an die quälende Zeit vor dem Mauerfall obsiegen. Aus diesen gespenstisch wirkenden Abschnitten an der sogenannten Nahtstelle zwischen Ost und West verbannten realsozialistische Machthaber und ihre Befehlsempfänger nämlich nicht nur die Natur. Das Betreten des Todesstreifens bedeutete schlichtweg Lebensgefahr für alle, welche von dem angeblich demokratischen Deutschland in das benachbarte Feindland, also die Bundesrepublik wollten. Längst hat sich die Idylle teilungsbedingt verloren gegangene Räume zurück erobert. Wo einst verminte Geländeabschnitte absolute Gefahr herauf beschworen, lockt das „Grüne Band". Ein wichtiges, vom Ostseestrand bis hinein nach Sachsen verlaufendes Rückzugsgebiet für die Tier- und Pflanzenwelt. Narben – wie von Grasbüscheln umwucherte Kolonnenwege – künden noch immer von weniger schönen Zeiten.
Als Kontrastprogramm taugt Berlin. Das einstige Niemandsland zwischen dem sowjetischen Sektor und den drei Westzonen ist inzwischen baulich verdichtet sowie architektonisch aufgewertet.
An der viel längeren, rund 1.400 Kilometer langen grünen Grenze entstanden mehrere Gedenkstätten. Sie arbeiten begangenes Unrecht auf. Beispielsweise das Deutsch-Deutsche Museum in Mödlareuth, jenem im Kalten Krieg berühmt gewordenen Dorf zwischen Thüringen und Bayern. Der dortige museale Außenbereich lässt erahnen, wie hier einst das ostdeutsche Grenzregime funktionierte.
Andere markante Punkte rücken die Autoren ebenfalls in das Blickfeld ihrer Betrachtungen. So die Elbe, wo sich beide Deutschländer nie so recht über den Grenzverlauf einigen konnten. Oder der trotzig ins Land blickende Brocken. Noch immer ist der Berg die höchste Erhebung des Harzes. Nur: Bis 1989 blieb er für die Allermeisten unerreichbar. Bekannte Transitwege – die Grenzübergangsstelle Hirschberg-Rudolphstein gehört dazu – rücken in den Fokus. Genauso der Geisterbahnhof Probstzella, wo wachsame Kontrolleure sogenannte Interzonenzüge mit preußischer Gründlichkeit durchkämmten.
Die Berliner Mauer „verschönerte" ein aufmerksamer Zeitzeuge an einem grauen Tag mit Worten wie „Das Gefängnis ohne Dach". Längst ist dieser Satz verschwunden. Ebenfalls der als Kunstobjekt dienende Betonwall vor dem Brandenburger Tor. Auf dem Potsdamer Platz erwarten den Besucher heutzutage pralles Leben und futuristisch aussehende Gebäude. Die hier vom Bildchronisten einst festgehaltene in Nebel gehüllte Leere ist abhanden gekommen. Unweit des „Checkpoint Charlie" wird auf der Friedrichstraße an Peter Fechter erinnert, der 1962 bei einem von ihm selbst geplanten Seitenwechsel in die Freiheit ums Leben kam. Kurios die Geschichte der Exklave Steinstücken, ehemals umgeben von feindlichem brandenburgischen Sand. 1972 erhielt das Gebiet endlich einen Korridor nach West-Berlin und die bizarre Situation für die bislang ausgegrenzten Bewohner entspannte sich.
Fazit: Die vorliegende Dokumentation ist nicht nur geeignet als Lektüre für die Beschreibung der Umwälzungen im ehemaligen Grenz-und Sperrgebiet. Sie ist vor allem nachhaltige Medizin gegen das Vergessen und die Wahrnehmungen geschichtsvergessener sowie nostalgiebesessener Schönredner.
Roland BARWINSKY
Roland Barwinsky (links) zeigte der HZ-Chefredakteurin Beatrice Ungar, die im April Gast des Vereins Lesezeichen e. V. in Jena war, den musealen Außenbereich in Mödlareuth.
Foto: Iwana BARWINSKY