Ausgabe Nr. 2375
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Zu dem Schicksalsroman der Armenier von Varujan Vosganian
Am 24. April 1915, also vor fast hundert Jahren, begann der Völkermord an den Armeniern. Bis heute hat sich die Türkei nicht zu ihrer Verantwortung für die im Osmanischen Reich begangenen Verbrechen an der armenischen Minderheit bekannt. Es ist das Verdienst des rumänischen Politikers und Literaten armenischer Herkunft, Varujan Vosganian, in seinem „Buch des Flüsterns“ erneut die Verbrechen an den Armeniern zu thematisieren (nach den inzwischen fast vergessenen, seinerzeit aber berühmten Büchern von Autoren wie Franz Werfel oder Armin T. Wegner).
Die rumänische Ausgabe „Cartea șoaptelor“ erschien schon 2009 (bei Polirom), die deutsche Übertragung durch den aus dem Banat stammenden Ernest Wichner, Leiter des Literaturhauses Berlin, wurde 2013 im Wiener Zsolnay-Verlag publiziert. Damit wird auch deutschen Lesern das tragische Schicksal der Armenier seit dem Ende des 19. Jahrhunderts im Orient, in Russland bzw. der Sowjetunion und im kommunistischen Rumänien erneut vor Augen geführt.
Vosganian hat eine Familienchronik mit historischem Hintergrund geschaffen, die phantasievoll Daten und Fakten zum politischen Geschehen mit Erinnerungen der Überlebenden dieses im 19. und 20. Jh. mehrfach verfolgten christlichen Volkes verbindet. Er erzählt in der Ich-Form und schildert sehr anschaulich aus der Sicht eines Kindes und Heranwachsenden den Kampf, die Verfolgung und Tötung, aber auch das Überleben zahlreicher Familienmitglieder und Freunde. Aber auch zahlreiche historische Persönlichkeiten treten in den Schilderungen auf, die er vor allem den Erzählungen seines Großvaters Garabet Vosganian verdankt (der aus Ostanatolien stammte).
Varujan Vosganian wird 1958 in Craiova geboren und wächst in Focșani auf. Die Schilderung der Düfte und Gerüche seiner Kindheit (Großmutters Teig für die Baklava-Süßspeise, die Früchte, der Kaffee) erinnert an Marcel Prousts berühmtes „Madeleine“-Gebäck, dessen Geschmack die Erinnerungen an die Kindheit auslöst. – Die Bücher des Großvaters bestimmen früh die Entwicklung des Knaben: „Großvater Garabet kannte fast alle Alphabete: das lateinische, das kyrillische, das griechische und das arabische. (…) Ich verstand die Bücher vor allem durch Betasten und Riechen.“ (S.13ff.) Der Großvater mütterlicherseits, Setrak Melichian, dessen Vorfahren aus Persien stammten, hatte die türkischen Massaker von 1915 überlebt und kam über Jerewan (Armenien), Tiflis (Georgien) und Odessa (Ukraine) nach Craiova. – Der Ich-Erzähler versucht die Fülle der auftretenden Gestalten zusammenhängend zu ordnen, was angesichts ihrer Anzahl schier unmöglich scheint. Eines ist ihnen aber gemeinsam: „Alle Reisenden meines Volkes haben auf die eine oder andere Weise Handel getrieben.“(S.59).
Der Autor gliedert das Werk in zwölf Kapitel, in denen er jedoch nicht chronologisch vorgeht, sondern in Vor- und Rückblenden unterschiedliche Phasen des armenischen Kampfes ums Überleben beleuchtet. Das erschütternde Kapitel „Fünf“ berichtet vor allem von dem heute weniger bekannten Massaker vom 8. Oktober 1895 in der Hafenstadt Trapezunt, das durch einen misslungenen Attentatsversuch auf Bahri Pascha ausgelöst wurde. Obwohl die Konsulate der kontinentalen Mächte (außer dem des Deutschen Reichs!) bei den osmanischen Behörden um Schutzmaßnahmen gegen ein Pogrom ersucht hatten, kündigten Trompetensignale „den Sturm auf die armenischen Wohnviertel“ (S. 226) an. Insgesamt wurden 591 Armenier dieser Stadt umgebracht und 81 in den umliegenden Dörfern. Die Behörden gaben die Tötung von „nur“ 182 Armeniern und elf Türken an. Da die Massaker weiter gehen, besetzt ein Kommando von 25 armenischen Kämpfern die Osmanische Bank und droht mit der Sprengung des Staatsschatzes. Schließlich erreichen sie freies Geleit und die Abfahrt nach Marseille.
Zwanzig Jahre später sollte es während des Ersten Weltkriegs zum noch schrecklicheren Genozid an den Armeniern kommen. Unter dem Vorwand der Kollaboration mit dem Feind ließ die mit dem Deutschen Reich verbündete Hohe Pforte am 24. und 25. April 1915 etwa dreihundert armenische Intellektuelle verhaften, von denen die meisten später ermordet wurden, darunter „der größte armenische Dichter, Daniel Varujan“ (S. 240). Ein beispielloser Völkermord wird im „Schatten“ des Weltkriegs verübt, bei dem nach armenischen Schätzungen etwa 1,5 Millionen getötet wurden, nach türkischen Angaben etwa 300.000. Obwohl z.B. der Schriftsteller und Orientreisende Armin T. Wegner, der die Vertreibungen fotografisch festhielt, das Deutsche Reich informierte und sogar einen Offenen Brief an den Präsidenten der USA richtete, geschah nichts, weil die Türkei mit den Deutschen verbündet war. – Dieses Verbrechen wird später von armenischen Attentätern mit der Aktion „Nemesis“ (= Rachegöttin der Griechen) bestraft: 1921/22 werden in Berlin, Rom, Tiflis und Konstantinopel stellvertretend für alle Schuldigen am Genozid, die ohne Gerichtsurteile davongekommen waren, sieben hohe Verantwortliche auf offener Straße erschossen.
Kurz vor der Machtergreifung der Nazis erscheint noch Franz Werfels berühmter Roman „Die vierzig Tage des Musa Dagh“, der das Martyrium der Armenier eindringlich schildert. Der neue Reichskanzler Adolf Hitler soll später seine Pläne zur Vernichtung der Juden auch mit dem Satz begründet haben: „Wer redet heute noch von den Armeniern?“
Vosganian tut genau dies: Er vermittelt den Lesern all das, was er als Kind und als Erwachsener von Familienmitgliedern und Zeitzeugen meist im geheimnisvollen Flüsterton erfahren hat: „Das ‚Buch des Flüsterns’ ist keine Chronik der erlebten oder imaginierten Dinge, sondern der Dinge, die jemandem anvertraut wurden.“ (S. 484)
Ernest Wichner wurde für seine „kristalline Übersetzung“ für den Übersetzerpreis der diesjährigen Leipziger Buchmesse nominiert und der Osteuropa-Kenner Karl Markus Gauß kennzeichnete (in der Süddeutschen Zeitung) Vosganians Buch als „literarisches Werk erster Güte“. Und im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung schreibt Sabine Berking am 18. Oktober 2013: „Nach Franz Werfel schreibt der in Rumänien umstrittene Politiker Varujan Vosganian mit dem 'Buch des Flüsterns' die Geschichte der Armenier fort. Der meisterhafte Roman überzeugt nicht nur literarisch, er ist auch ein Dokument des Erinnerns (…) Mit seiner poetischen, präzis-lakonischen Sprache, kongenial und einfühlsam von Ernest Wichner ins Deutsche gebracht, ist dies wahrlich ein Jahrhundertbuch". Dem kann man nur beipflichten und den Roman zur Lektüre empfehlen.
Konrad WELLMANN
Varujan Vosganian: Buch des Flüsterns. Aus dem Rumänischen übersetzt von Ernest Wichner, Zsolnay Verlag Wien 2013, 512 S., ISBN 978-3-552-05646-6