Ausgabe Nr. 2367
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Was stand vor 100 Jahren in den Zeitungen? (I. Teil) / Von Wolfgang REHNER
Worüber sprach man in unserer Stadt zu Beginn dieses sagenhaft schrecklichen Jahres, worüber sprachen die Hermannstädter im Januar 1914? Wussten sie etwas von den Spannungen zwischen dem zaristischen Russland und der österreich-ungarischen Monarchie und waren davon beunruhigt, oder beschäftigten sie sich mit anderen Dingen und waren politisch ahnungslos? Oder ahnten sie vielleicht sogar schon etwas von dem bevorstehenden Zusammenbruch dieser beiden Großmächte? Worüber sprachen die Leute in dieser spannungsreichen und problemgeladenen Zeit, wenn sie in öffentlichen Lokalen oder in ihren Häusern zusammenkamen?
Es hat einen besonderen Reiz, in alten Zeitungen zu blättern. Zuweilen ist es unterhaltsam und kann einen amüsieren, zuweilen bietet diese Lektüre aber auch wertvolle Informationen, weil wir zurückliegende Dinge sehr oft in verkürzter Perspektive sehen. Zeitungen bieten hingegen ein lebendiges Bild, nicht dessen, wie man die Dinge rückblickend vereinfachend sieht oder gelernt hat, sondern dessen, wie sie damals gesehen wurden.
Ich nehme das Siebenbürgisch-Deutsche Tageblatt vom 10. Januar 1914 zur Hand und bin überrascht, gleich auf der ersten Seite einen Artikel über die Frage der Rumänen in Siebenbürgen zu finden. Nichts über die großen Spannungen in Europa und der Welt, dafür aber Nachrichten über eine brisante Frage, die uns sehr nahe liegt. Am 9. Januar wurde aus Budapest gemeldet: „Allem Anschein nach nähern sich die Verhandlungen zwischen dem Ministerpräsidenten Grafen Stefan Tisza und den Romänen ihrem Abschluss.“ In diesen Verhandlungen ging es um die Stellung der Rumänen im ungarischen Staat, welche ähnlich wie bei den Sachsen geregelt werden sollte. Konkret wurde über das allgemeine Wahlrecht verhandelt, und vor allem über die Durchführung des Nationalitätengesetzes, das in den letzten Jahren durch neue Auflagen eingeengt worden war. Das rumänische „Nationalkomitee“ hatte seine Forderungen vorgelegt und der Ministerpräsident trachtete danach, einen Ausgleich herbeizuführen, doch stieß er in Budapest dabei auf Widerstand, so dass die Verhandlungen einem schweren Ringen gleichkamen.
Auf Seite 2 berichtet dasselbe Blatt unter dem Titel „Versuchte Verhetzung“, dass das Neue Pester Journal die Forderungen der Rumänen gegen die Interessen der Sachsen auszuspielen versucht, indem es behauptet, eine Zunahme der Rechte der Rumänen würde zugleich einen Verlust an Rechten für die Sachsen bedeuten. Dagegen brachte das gut informierte ungarische Blatt Világ die Äußerung des sächsischen Abgeordneten Emil Neugeboren, dass die Sachsen an einem Ausgleich mit den Rumänen interessiert seien, denn: „Wir sind unbedingte Anhänger des Nationalitätenfriedens und einer gerechten und wahrhaft freiheitlichen Nationalitätenpolitik. Alle nationalen Reibungen schädigen auch unsere Interessen, auch wenn sie uns nicht direkt berühren. Deshalb hat man bei uns die Aktion Tiszas mit ehrlichem Wohlwollen verfolgt.“ Weiterhin erwähnte Neugeboren einen anderen sächsischen Abgeordneten, Rudolf Schuller, der aus eigener Initiative in einem Artikel den „romänischen Standpunkt klarzulegen“ versuchte, was bedeutet, dass er für ihn eintrat.
Nach dieser Lektüre im Siebenbürgisch-Deutschen Tageblatt greife ich auf das ebenfalls in Hermannstadt erschienene politische Wochenblatt Foaia Poporului vom 14. Januar, wo gleich auf der ersten Seite die Überschrift ins Auge springt: „Der Balkankrieg und die Rumänen“. Gezeichnet ist der Artikel von Gheorghe Fleşiariu, Major in Rente. Rückblickend auf die beiden Balkankriege (1912-1913) spricht er vom Gefühl der Rache, das 500 Jahre lang in der Brust der Unterdrückten erstickt worden war und nun siedend zum Ausbruch kam. „Vom Gipfel des Balkan krächzt jetzt das Untier des Schreckens: …Gebt den Völkern das ihnen zustehende Recht!“ Dann führt er aus, dass Rumänien und das Rumänentum nach diesem Krieg eine nie dagewesene Rolle spielen. Die Augen der Welt sind aufgegangen für die Bedeutung des Rumänentums als trennende Mauer zwischen den beiden mächtigen Blöcken des Slawentums und des Deutschtums. Deshalb umschwärmen jetzt alle Nachbarn die Rumänen wie ein reiches und schönes Mädchen, das man als Braut begehrt. So hat auch Ministerpräsident Tisza sich beeilt, die Rumänen nach Pest zu rufen, um mit ihnen süß und schön über einen Ausgleich zu sprechen. Doch tat er das nicht von Frau Liebe getrieben, sondern von Herrn Muss (Domnul Musai) und von der Dame Grausen (Cocoana Groază). – Wenn die Völker des Balkans sich ihr Recht selber mit Gewalt erkämpft haben, weil es nicht anders ging, muss es doch heute bei uns nicht ebenso geschehen. Bei uns könnte alles friedlich und legal vor sich gehen. Wenn unser Kaiserreich Österreich-Ungarn all seinen Völkern ihr Recht einräumt, wird es nicht nur eine große Macht sein, sondern auch ein starkes und von niemandem besiegtes Reich. Die Rumänen werden dabei unter den Ersten sein, denen ihre Rechte zuteil werden. „Die Brüder der stolzen Braut müssen zufriedengestellt werden.“ So die Stimme eines Rumänen, der Major in der österreichischen Armee gewesen war.
Auf den folgenden Seiten berichtet dasselbe Blatt weiter:
Die Zeitungen in Österreich und Deutschland beschäftigen sich in letzter Zeit immer mehr mit der Lage der Rumänen in Siebenbürgen. Die meisten von ihnen geben zu, dass den Rumänen in ganz Ungarn viel Unrecht geschieht. Am 31. Dezember 1913 veröffentlichte die renommierte Vossische Zeitung in Berlin einen Artikel über „Die Ungarn, die Rumänen und Erzherzog Franz Ferdinand“. Dieser Artikel berichtet über Graf Czernin, den Gesandten Österreich-Ungarns in Bukarest, und seine Tätigkeit. Graf Czernin stammt aus Böhmen, ist mit dem Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand befreundet und vertritt bezüglich der Stellung der Rumänen in Ungarn eine Politik des Ausgleiches. Diese seine Haltung wird in Budapest in Regierungskreisen jedoch kritisch betrachtet und in der Presse angefeindet, obwohl der Standpunkt Czernins dem des Ministerpräsidenten Tisza inhaltlich nahe steht.
In der nächsten Ausgabe der Foaia Poporului (vom 18. Januar 1914) finden wir die Frage: „Ist ein Ausgleich möglich?“ Die Antwort, die der Artikel gibt, lässt sich wie folgt zusammenfassen:
Sieht man auf die Haltung der ungarischen Chauvinisten in Budapest, so müsste die Antwort lauten: Nein! Aber Österreich-Ungarn ist an der Freundschaft mit Rumänien interessiert und deshalb hat Tisza den Auftrag bekommen, die siebenbürgischen Rumänen zufrieden zu stellen. Tisza ist ein tatkräftiger und fähiger Mann. Seit Monaten laufen Verhandlungen mit der Nationalpartei der Rumänen in Ungarn. Die parlamentarische Opposition wirft aber Tisza vor, er wolle Siebenbürgen verkaufen. In Klausenburg hat eine Versammlung stattgefunden, die sich gegen jeden Ausgleich zwischen Rumänen und Ungarn in Siebenbürgen wehrt. Es ist erschütternd, die ungarischen Zeitungen dieser Tage zu lesen, die Tisza angreifen. Dagegen ist nur zu sagen: „Wir Rumänen aus Siebenbürgen und Ungarn wissen was wir wollen, nämlich: gleiche Rechte mit den andern Bürgern des Vaterlandes… Heute wünscht das rumänische Volk noch Frieden, aber einen ehrlichen Frieden… Deshalb rufen wir den magyarischen Chauvinisten noch beizeiten zu: Bedenkt euch und handelt, solange es Zeit ist… Ein Millionenvolk kann nicht auf immer und ewig zum Verschwinden gebracht werden.“
Diese letzten Sätze klingen wie eine Drohung, es ist ein scharfer Ton, aber heute, nach 100 Jahren, kann man nicht sagen, sie seien falsch gewesen. Es war tatsächlich höchste Zeit. Ja, man müsste eigentlich richtiger sagen: es war bereits zu spät. Andererseits lässt sich aus dem Erscheinen dieses Artikels auf eine weitgehende Freiheit der Presse schließen. Auf jeden Fall kann ich mir jetzt ein lebendiges Bild davon machen, worüber im Januar 1914 in Hermannstadt gesprochen wurde.
Ernst Gräser, Radierung, um 1914