Ausgabe Nr. 2356
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Zeitzeugen berichten von den Jahren 1949 – 1989
„Neuanfang im Westen“ ist 2013 im Mitteldeutschen Verlag als Taschenbuch erschienen. Der Einband ist ausschließlich in den Farben weiß und grün gehalten, die Vorderseite nimmt ein Schwarz-weiß-Foto ein, das eine mehrköpfige Familie samt Gepäck zeigt, sie dreht dem Betrachter jedoch den Rücken zu.
Es handelt sich bei dem Werk um eine Publikation der Deutschen Gesellschaft e. V. unter der Verantwortung des Bundesaußenministers a. D. Hans-Dietrich Genscher.
Andres H. Apelt hat als Herausgeber 20 Lebensgeschichten gesammelt, die repräsentativ für die von rund 3,5 Mio. anderen Menschen stehen, denen es in den Jahren 1949 bis 1989 auf irgendeine Art und Weise geglückt ist, die DDR gen Westdeutschland zu verlassen.
Ein Großteil der in diesem Buch zu Wort kommenden Menschen haben ihren schicksalhaften und bewegenden Lebensweg später auf unterschiedlichste Weise aufgearbeitet – sei es durch Buchveröffentlichungen, Filme, als Mitglied einer Institution wie der Deutschen Gesellschaft e. V. oder dem Frauenkreis der ehemaligen Hoheneckerinnen oder aber auch mit der Tätigkeit in einer der zahlreichen Gedenkstätten.
Das Buch ist untergliedert in drei Teile, nämlich die Phasen der „Zeit bis zum Mauerbau 1961“, „Die 1960/70er Jahre – Von Sperrbrechern und ‚Ausgebürgerten‘“ und „Die 1980er Jahre bis zur Friedlichen Revolution“.
Im ersten Teil wird von sieben Menschen geschildert, wie sie, meist noch in relativ jungen Jahren, der DDR den Rücken gekehrt haben, um im Westen ein neues, ein besseres Leben anzufangen. Einigen von ihnen wurde diese Entscheidung von ihren Eltern abgenommen, die, wie hier oft beschrieben, durch ihre sozialdemokratische Einstellung mit der sozialistischen Führung der DDR in Konflikt standen.
In dieser Zeit vor dem Mauerbau war es noch vergleichsweise leicht, die innerdeutsche Grenze unbeschadet zu überwinden. So konnte man etwa mit der S-Bahn ohne weiteres von Ost nach West fahren – Personenkontrollen durch die (Zivil-) Polizei der DDR gab es zu diesem Zeitpunkt nur stichprobenartig.
In der Zeit nach dem Mauerbau sind die Bedingungen bereits verschärft – die Zeiten, in denen man mit der S-Bahn „schnell mal rüber nach Gesundbrunnen düst, um ins Kino zu gehen, Garderobe oder Schuhe, Südfrüchte oder Schokolade zu kaufen“, gehören mit dem Mauerbau nun der Vergangenheit an. Das DDR-Regime schaffte es, mit der Errichtung der Mauer die Zahl der „Republikflüchtigen“ auf rund ein Zehntel zu beschränken – dem Streben nach Freiheit, freiheitlichem Denken und freier Entfaltung konnte damit aber noch längst kein Riegel vorgeschoben werden. Es wurden die riskantesten Fluchtversuche unternommen, die nicht selten auch mit dem Leben bezahlt wurden. Doch all das stellte für die Flüchtlinge kein Hindernis dar – „die Wut auf das menschenverachtende SED-Regime war mächtiger“. Kam es zu einer Verhaftung, dann folgte die Verhandlung oft erst nach monatelanger, zermürbender Untersuchungshaft; der Ausgang solcher Verhandlungen stand meist schon vorher fest – David gegen Goliath sozusagen. Zumeist erwarteten einen jahrelange Haftstrafen und im Anschluss noch mehr Tyrannei durch den DDR-Staat. Wer mit einem Leben im Land des „Klassenfeindes“ geliebäugelt hatte, konnte in keiner Weise mehr Fuß fassen, weder beruflich noch privat – überall musste mit Bespitzelungen gerechnet werden – heute alles in den akribisch geführten Stasi-Akten nachzulesen. Wie groß die Verzweiflung gewesen sein mag, kann man wahrscheinlich nur vage erahnen. Umso bewundernswerter ist es, dass es trotz der hohen Strafen, die einem drohten, immer noch Menschen gab, die ihre eigene Freiheit aufs Spiel setzten, und als Fluchthelfern anderen Menschen zu einem freien, besseren Leben verhelfen wollten. Etwa 33 000 DDR-Bürger wurden außerdem von der BRD aus der Haft freigekauft. Eine weitere Möglichkeit, dem DDR-Staat zu entkommen, war ein Ausreiseantrag, den man stellen konnte – dass einem solchen Antrag stattgegeben wurde, war jedoch reine Ermessenssache der DDR-Behörden.
Im dritten Teil kommt u. a. der Olympiasieger von 1976, Hans-Georg Aschenbach, zu Wort. Er schildert, wie er von der Stasi nach seinem geglückten Fluchtversuch massiv erpresst, und seine Familie bedroht wurde: „Es hieß, mein Vater habe einen Herzinfarkt erlitten, meine Mutter einen Nervenzusammenbruch, meine Frau sei inhaftiert worden und meine Kinder im Waisenhaus. (…) Später stellte sich heraus, dass alles, was mir von der Stasi gesagt wurde, nicht der ‚Wahrheit entsprach.“
Mario Röllig bestätigt in seinem Bericht diese unlauteren Mittel: „(…) sollte ich jemals öffentlich im Westen über meine Erlebnisse aus der Stasihaft in der DDR reden – der Arm der Stasi sei lang. Ein Autounfall könne auch in Stuttgart, in München oder in West-Berlin passieren. Und meine Eltern hätten sie ja auch schon kennengelernt.“
Dieser psychische Druck, diese offensiven Bedrohungen zeigen, wie die DDR Ende der 80er Jahre bereits ihre Felle davon schwimmen sah, dass sie zu so erbärmlichen Methoden greifen musste.
Tatsächlich konnte sie ihre Ideologie nicht mehr allzu lange aufrecht erhalten, der Widerstand unter der Bevölkerung wurde einfach zu groß. Am 9. November 1989 kam es zur Friedlichen Revolution, die Mauer fiel und tausende von zerrissenen Familien wurden endlich wieder zusammengeführt.
Noch ein Buch, das sich die deutsch-deutsche Teilung zum Thema macht, denkt vielleicht der ein oder andere. So ganz ist das auch nicht von der Hand zu weisen. Jedoch greift „Neuanfang im Westen“ das Thema auf eine neue Weise auf – denn 20 Zeitzeugen erzählen ihre ganz persönliche Geschichte, zumeist in der Ich-Perspektive. Dadurch kann sich der Leser überaus gut in das Erlebte hineinversetzen. Die Geschichten mögen vielleicht alle ähnlich erscheinen, aber sie sind doch alle einzigartig und individuell, und vor allem haben sie das Schicksal und die Zukunft der Erzählenden maßgeblich beeinflusst.
Für die nachkommenden Generationen sind die Aufzeichnungen und Erinnerungen wichtiges Kulturgut, für die berichtenden Zeitzeugen wichtige Aufarbeitung – authentischer und anschaulicher kann Geschichte nicht sein. Unter den Sachbüchern, die sich die innerdeutsche Teilung zum Thema gemacht hat, gehört „Neuanfang im Westen“ auf jeden Fall zu den unbedingt lesenswerten!
Yasmin SEDLER