Ausgabe Nr. 2353
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Zum Buch „Spätes Debüt" von Virgil Enătescu
Virgil Enătescu ist Arzt. Und Schriftsteller. Das scheinbar Gegensätzliche ist so gegensätzlich nicht, wenn wir bedenken, dass es eigentlich bei beiden Beschäftigungen buchstäblich um Leben und Tod geht. Was braucht der Mensch zum Leben, was wird ihm gefährlich, was geht in ihm vor, was bleibt nach seinem Ableben?
In der deutschen Literaturgeschichte erfreuen sich schreibende Ärzte immer wieder größter Aufmerksamkeit. Georg Büchner, der schon Anfang des 19. Jh. mit seinem „Woyzeck“ das moderne Drama vorwegnahm; ein Drama, in dem unter anderem auch das heute noch praktizierte und höchst umstrittene Phänomen der medizinischen Versuche am Menschen thematisiert wird. Oder Gottfried Benn, dessen „Morgue“ –Gedichte seine unmittelbaren Erfahrungen als Arzt, vor allem in der Pathologie, literarisch widerspiegeln. Oder Arthur Schnitzler, Laryngologe, oder, oder …
Nun also Virgil Enătescu, Psychiater, Erfinder, Anthropologe, Essayist und Schriftsteller. Worüber er schreibt? Zum Beispiel in essayartigen Kurzprosatexten über die besondere, tief ins Unbewusste reichende Verbindung zwischen Mensch und Hund. Eine Verbindung, die der Mensch willentlich und wissentlich zerreißt, die alte Freundschaft verrät. Ein Text, der gerade angesichts der jetzigen, hysterischen Debatte um die Tötung der Straßenhunde besonders relevant ist. Der Arzt Enătescu wiederum bemüht sich um Anerkennung der Hunde als Therapie-Hilfe.
Oder der ähnlich gelagerte Text über die „zum Tode verurteilten Pferde”. Da diese seit Urzeiten der treue Helfer und Gefährte des Bauern waren, der seinen Grund bearbeitete, mussten sie als Symbol alten Besitzdenkens in den kommunistischen Zeiten verschwinden, auf dass den nun in die LPG eingegliederten Landarbeitern jede Hoffnung und jede Erinnerung auf ein Wiederherstellen des alten Status’ genommen werde.
Einige der Texte aus dem vorliegenden Band „Spätes Debüt” sind persönliche Reiseberichte, von der ersten Fahrt in den Westen, den filmreifen Grenzkontrollen, die klar aufzeigten, dass es nicht wie vorgegeben um den Schutz nach außen ging, sondern eigentlich darum die Bewohner des Landes eingesperrt zu halten. Viele der Texte thematisieren die Widrigkeiten des sozialistischen und postsozialistischen Alltags, die leider viel zu schnell vergessen wurden. Insoweit sind diese kurzen, persönlichen Erinnerungstexte auch für die Leser ein Memento, es nicht wieder so weit kommen zu lassen und für eventuelle Nostalgiker ein Hinweis auf die erlebte Realität jener Zeit.
Der Bogen wird von der Schulzeit über die Aufnahmeprüfung bis hin zu dem uminterpretierten Lenin-Zitat vom Lernen, und den vergessenen oder verdrängten Künstlern des Landes gespannt.
„Nach und nach erkannte ich die diabolische Methode, mit der man jede Initiative im Keim erstickte, jeden Willen auslöschte, eine Menschenmasse durch Kälte, Hunger und Dunkelheit lähmte. Damals, heute und in Zukunft werde ich mich wieder und immer wieder fragen, was man aus diesen drei Entbehrungen gelernt hat.” Heißt es in „Lernt, lernt, lernt!”.
Der Brückenbauer wiederum wird in den 1960-er Jahren dafür bestraft, dass er seine Arbeit richtig und gut durchdacht durchführt. Auch wenn seine Brücke etwa ein Jahrzehnt später allen Überschwemmungen trotzt, so war sie doch kostspieliger als eine verpfuschte billige, die zumindest bei der Übergabe gut aussah. Ach, wie deucht’ uns alles so bekannt!
Nachdenklich stimmt der Text über die ersten Bombenabwürfe auf die Ölraffinerie bei Câmpina, die der kindliche Ich-Erzähler im Zweiten Weltkrieg bei seiner Großmutter erlebt und die manche seiner Spielkameraden das Leben kosteten. „ ‚Die Flieger kommen! Wie viele es sind! Wie sie leuchten! Alle sind silbern!’ Die Nachbarskinder saßen auf den Bäumen und begannen mit lauter Stimme zu zählen. Ich lauschte dem Zählen und war zugleich verwundert, wieso sie draußen sein durften und etwas sehen konnten, während wir im Dunklen und Kühlen im Keller versteckt verharren mussten.”
Auch die Vergabe des Wohnraums nach der Wichtigkeit der ihn beantragenden „Persönlichkeit” gehört vielleicht noch nicht so sehr der Vergangenheit an, wie wir uns das wünschten. Auf die Bitte zumindest der Zuteilung eines zusätzlichen Zimmers, um seine vielen Bücher unterzubringen, erhält der Schriftsteller den Bescheid: „Zuerst sind die Persönlichkeiten an der Reihe.” Weiter heißt es dann in der kurzen Erzählung: „Das Rätsel der Persönlichkeit und der Kategorie war bald gelöst, als das gewünschte Haus einem Genossen Chauffeur der größten Chefin der Gegend zugeteilt wurde.”
Fazit: Der vorliegende Kurzprosaband mag bescheiden daherkommen, doch sind viele der Texte bei näherem Besehen abgründiger als es den Anschein hat und laden ein, sie immer wieder neu zu lesen.
Die Übersetzerin Beatrice Ungar studierte Anfang der 1980er in Hermannstadt Germanistik und Romanistik und beschäftigte sich schon während des Studiums mit Übersetzungen. Anregungen erhielt sie wohl schon aus dem familiären Umkreis, da ihr Vater Reimar Alfred Ungar nicht nur langjähriger Leiter des Hermannstädter Buchhandels war, sondern auch ein begnadeter Übersetzer, der dem deutschsprachigen Publikum das Werk einiger zeitgenössischer rumänischer Dichter erschlossen hat.
Beatrice Ungar hat zahlreiche Übersetzungen von Sachtexten oder gar -büchern gemacht, im belletristischen Bereich hat sie sich bisher eher der Lyrik zugewandt und einige Gedichtbände aus dem Rumänischen ins Deutsche übersetzt. Doch auch der deutsche Text der viersprachen Ausgabe der Roma-Märchen von Luminița Cioabă stammt aus ihrer Feder. Mit dem vorliegenden Band hat sie sich nun auch den Bereich der Kurzprosa zu eigen gemacht.
Sunhild GALTER
Bei der Buchvorstellung am 28. September im Erasmus-Büchercafé (v. l. n. r.): Der Autor Virgil Enătescu, die Übersetzerin Beatrice Ungar, die Germanistin Sunhild Galter und der Gastgeber Jens Kielhorn.
Foto: Fred NUSS