Rauschende Electro-Swing Partys!

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 Alice Francis aus Temeswar hat die 20er Jahre wieder entdeckt

 

Als ich vor einigen Monaten eine Freundin besucht habe, lief im Hintergrund Musik, die ich nicht kannte. Diese prägnante Stimme hatte ich bisher weder im Radio, noch in Kneipen oder Diskotheken gehört. Das überraschte mich, denn die elektronischen Beats gingen sofort ins Bein. Was war denn das für eine Mischung aus Pop, Swing und Hip Hop? „Das ist Electro-Swing“, sagte meine Freundin. Den Namen der Sängerin kannte sie selbst noch nicht. „Kennste nicht – oder? Ist ja auch fast noch ein Geheimtipp!“

Ich war begeistert. Eine lässig-freche, manchmal auch raue Stimme. Mal kam sie heftig und laut, mal nur gehaucht daher. Sie passte bestens zu der mitreißenden Swingmusik! Der Name der Musikerin war daheim schnell gegoogelt: Alice Francis!

   

Die Veröffentlichung ihrer ersten CD war eine kleine Sensation. „St. James Ballroom“, so der Titel, wurde zum besten Newcomer-Album des Jahres gekürt. Der Titelsong eroberte sogar Platz 1 in den Myvideo-Musikclip-Charts. Seitdem tourt sie durch ganz Europa und Nordamerika. Heute ist sie längst mehr als ein Geheimtipp. Sie hat sich vielmehr zur Ikone einer ganzen Musikrichtung, des heute weltweit angesagten Electro-Swing, gemausert!

Dabei sieht sie ganz so aus, wie die Reinkarnation der großen Josephine Baker. Sie singt und tanzt kraftvoll und schrill, ähnlich wie ihr Vorbild aus Paris. Allerdings, Alice Francis ist moderner, elektronischer, noch schräger und musikalisch voll auf der Höhe unserer Zeit!

Alice Francis, die in Köln lebt, ist Tochter eines tansanischen Vaters und einer rumänischen Mutter aus Temeswar. Sie ist, trotz ihres jungen Alters, eine begeisterte Anhängerin der 20er Jahre und damit eines verspielt-trotzigen Lebensgefühls, das wegen der heraufziehenden weltweiten Krisen auch als „Tanz auf dem Vulkan“ bezeichnet wird.

Dieses Lebensgefühl spürt man auch, wenn Alice Francis mit ihrer Band auf der Bühne steht. Zusammengesteckte Haare und Topfhüte, Liedschatten und Lippenstift, enganliegende und kniefreie Cocktail-Kleider sowie Nylonstrümpfe bestimmen ihr Erscheinungsbild. Dazu gibt es Unmengen von Franzen, Perlenketten und Federn! Der Auftritt und das Outfit der cool tanzenden Sängerin passt bestens in die Vorstellung der „Roaring Twenties“!

Die beiden Musiker, die hinter ihr stehen, bedienen Kontrabass und Grammophon. Sie erscheinen mit Zylinder und Baskenmütze, mit Weste, Frack, Schlips und Fliege, ebenfalls im 20er Jahre-Retro-Look. Und doch sind sie viel mehr, als nur ein Rückgriff auf Altbewährtes einer weit zurück liegenden Zeit! Sie bieten eine musikalische und technische Extraklasse!

Denn wenn der aus Korea stammende Musiker Sir Chulmin-Yoo und der Produzent und Musiker Goldielocks auf der Bühne erst einmal richtig loslegen, dann simulieren sie mit Harmonizer und Launchpad ausgerüstet, den Sound von Backgroundchören oder einer ganzen Bigband. Zusammen mit den singenden und tanzenden Flappergirls und der extravaganten Stimme ihrer coolen Frontfrau entfachen diese Gentlemen einen furiosen Musik-Vulkan.

Dabei überraschen die stampfenden Beats, die raffiniert-elektronischen Plug-ins und Jingles den Zuhörer ständig aufs Neue. In Kombination mit der einzigartigen Stimme von Alice Francis, die je nach Bedarf swingt, rappt, flüstert oder röhrt, schafft es der unvergleichliche Electro-Sound, dass sofort Partystimmung entsteht und kein Tanzbein still bleiben kann.

In ihren Texten, die Alice Francis übrigens alle selbst geschrieben hat, ist sie humorvoll und emanzipiert. Auch damit steht sie ganz in der Tradition der 20er Jahre. Da wird in „Shoot him down“, der ersten Single der CD, dem untreuen Liebhaber unmissverständlich mitgeteilt, dass er sich längst nicht alles erlauben kann. In „Kiss my ass“ wird dagegen einem zu aufdringlichen Verehrer auf augenzwinkernde Weise nahegebracht, dass er nicht die erste Wahl der Interpretin ist. Der auf der CD abschließende Song „Sandmann“ ist eine gehauchte Hommage an einen Sand bringenden Traummann. Er ist es, der die Sängerin jede Nacht zum Fliegen bringt, weil es in der Realität nun mal keine echten Traummänner gibt.

Diese Texte unterstreichen, dass Frauen sich in den wilden 1920er Jahren selbst entdeckt haben. Sie wurden selbstbewusster und nahmen ihr Leben fest in die Hand. Sie kämpften gegen die Jahrhunderte währende Unterdrückung durch die Männerwelt! Alice Francis knüpft an diese Zeit nach dem ersten Weltkrieg an. Damals hatten Frauen sich endlich das Wahlrecht erkämpft und traten für ihre gesellschaftliche und politische Gleichstellung ein.

Alice Francis, die sich auch Miss Flapperty, eine Verbindung aus Flapper und Liberty, nennt, bezieht sich auf diese Kämpferinnen. Flapper wurden in den 20er Jahren selbstbewusste Frauen genannt, die abends ganz emanzipiert, trotz Prohibition und gegen den Willen ihrer Männer, Kneipen und Spielsalons besuchten. Frauen, die rauchend, mit Zigarettenspitze, Federboa und Stirnband ausgerüstet Partys veranstalteten, Absinth tranken und Charleston tanzten. Sie bedient dieses elegante, lebensfreudige, manchmal aber auch verführerische und laszive Frauenbild mit ihrer Musik, den Texten und einer mitreißenden Show perfekt.

Mittlerweile gibt es nahezu in jeder größeren Stadt einen Electro-Swing Club, Boheme Sauvage Veranstaltungen, Cocktail Soirées oder Neo-Charleston-Partys. Die Veranstalter werben damit, dass es dort knistert und glitzert, jazzt, tanzt und bebt! Sie schreiben Kleiderordnungen und Dress Codes nach Vorbild der 20er Jahre vor. Selbst die gängigen Modehäuser haben sich im Laufe des Jahres auf diese neue Nachfrage eigestellt und liefern die notwendige Couture dafür. Alice Francis hat heute, als Mitinitiatorin und Teil dieser begeisternden Welle, auch Fans in Asien und Südamerika. Ihre Lieder wurden vom Neo-Swing-Papst Parov Stelar gecovert, sie wird bei MTV gespielt und tritt in klassischen deutschen TV Formaten auf. Es ist dieser großartigen Musikerin mit ihren Gentlemen und Flappergirls zu wünschen, dass sie in Zukunft noch auf unzähligen Partys mit ihrem Electro Swing den Ton angibt und die Tanzbeine schwingen lässt!

All denjenigen, die nicht die Möglichkeit haben, in nächster Zeit ein Konzert von Alice Francis zu besuchen (2013: Am 5. September in Bad Homburg, am 6. September in Freiburg im Breisgau, am 20. September in Baden/Schweiz, am 8. November in Wien, am 28. Dezember in Bochum) sei die außergewöhnliche CD „St. James Ballroom“ wärmstens ans Herz gelegt. Viel Spaß!

Das Album St. James Ballroom, ist bei Universal Music Classics & Jazz erschienen (2012). Es enthält 17 Songs. Produzenten, Komponisten, Autoren und Produzenten sind Goldielocks, Alice Francis u.a.

Aus dem Album kann man kaum einen Song hervorheben, da sie alle ganz verschieden sind und mit großer technischen und musikalischen Perfektion eingespielt wurden. Trotzdem empfehlen wir vier Anspieltipps: „St. James Ballroom", „Shoot him down", „Kiss my ass", „Sandmann".

Holger VIERECK

 

Bildtext:

Alice Francis alias Miss Flapperty

  

Veröffentlicht in Aktuelle Ausgabe, Gesellschaft.