Fernwehträume an der Piste

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Trampen war zu DDR-Zeiten mehr als nur Abenteuer / Von Roland BARWINSKY
Ausgabe Nr. 2526

 

tramp

Hochsommer 1987. Zu dritt setzten wir uns in Dresden in den Zug und fuhren hinunter in das von Sonne überflutete Bulgarien. Kreuz und quer erkundeten wir dieses nicht nur landschaftlich abwechslungsreiche Land. Die meisten Bulgaren zeigten sich uns Ostdeutschen gegenüber sehr aufgeschlossen. Nur mittags ging dort aufgrund der durchgängigen Gluthitze nichts mehr. Beim fast täglich praktizierten Vorwärtskommen per Anhalter hatte unser Trio sehr viel Spaß. In Tagesetappen näherten wir uns allmählich der rumänischen Grenze.

 

Neben Gisa aus Leipzig, begleitete mich noch Matthias aus dem Vogtland. In einer lauen Sommernacht erreichten wir den Grenzort Giurgiu. Die lokale Bahnstation diente als Nachtasyl. Am Morgen hielt hier ein internationaler Zug, dem wir – stark übernächtigt – zustiegen. Der Schaffner schaute mit großen Augen auf die in der DDR gekauften Fahrscheine. Irgendetwas hatte er daran auszusetzen. Wir sollten nachzahlen mit Geld, welches bei uns überhaupt nicht vorhanden war. In Sinaia, einem Kurort mitten in den Karpaten, endete der Ausflug abrupt. Zugbegleiter katapultierten unsere Sachen kurzerhand auf das Bahngelände. Endstation! Ende! Sense! Aus! Die Stadt bestand aus zahlreichen Hotels. Langeweile kam bei diesem Ambiente schnell auf. Abenteuer für uns? Hier gab es sie nicht wirklich. Also wieder umgehend an die Piste. Ein Offizier der rumänischen Armee nahm uns per Anhalter in seinem bequemen Wagen mit nach Kronstadt. Der dortige Straßenrand lebte, war voller Menschen, voller Hektik. Alle wollten trampend irgendwo hin. Kleine Kinder sowie ergraute Leute sahen wir. Jeder schien hier seinen Daumen in den Wind zu halten. Schon die heterogene (ungleichartige) Zusammensetzung dieses Publikums verblüffte uns. Selbst Getier kreischte heftig und wartete eher unfreiwillig auf eine Mitfahrgelegenheit. Ein pittoreskes Bild in jeder Beziehung! Leider kamen an diesem Samstagnachmittag nicht viele Autos vorbei. Irgendwann starb die Hoffnung, und wir schlugen uns bis zum nächstgelegenen Vorort-Bahnhof durch.

Zielgerichtet steuerte im Wartesaal ein junger Mann auf uns zu und sprach uns auf deutsch an. Seit Jahrhunderten würden hier die „Siebenbürger Sachsen“ wohnen, verriet er. Wichtig war auch, dass er uns den Hinweis gab, wie man hierzulande ohne Fahrkarte zurechtkommt. Dem Schaffner sollten wir einfach ein paar Zigaretten geben und danach würde alles gut werden. Tatsächlich bestand der Tipp problemlos den Praxistest. Der Nachtzug fuhr bis Sibiu, auf deutsch Hermannstadt. Auch hier diente uns der Bahnhof als Quartier. Neben anderen Rucksacktouristen aus dem sozialistischen Deutschland übernachteten im Schlafsaal viele Angehörige der Roma-Minderheit. Man sah es sofort an den bunten Kleidern und Röcken der Frauen. Am anderen Tag sollte es umgehend an die Ausfahrtstraße am Stadtrand gehen. Es war gerade der 23. August. Ein wichtiger Feiertag im kommunistischen Rumänien. Denn an diesem Tag wechselte im Jahr 1944 das Land im 2.Weltkrieg die Seiten. Übermüdet liefen wir ins Zentrum und machten erst einmal in einem Freiluft-Restaurant Frühstück. Die Zutaten dafür holten wir aus unserem Reisegepäck. Ein Kellner fragte uns, ob wir etwas zum Trinken möchten. Wir lehnten freundlich ab. Ja, ohne Moos ist eben nichts los. Trotzdem durften wir Durchreisenden sitzen bleiben und unsere Mahlzeit beenden. Danach ging es wieder an die Piste. Dort passierte zunächst nicht viel. Eine Angehörige der deutschen Minderheit erkannte unsere Herkunft und wollte wissen, was wir hier machen. Sie kam vom Feld und meinte, dass es für ihre Volksgruppe an einem Tag wie diesem nicht viel zu feiern gäbe. Warum, das konnten wir uns nicht erklären – noch nicht.

Die Sonne entfaltete mehr und mehr ihre Kraft. Plötzlich hielt ein klappriger Lkw an, auf dem sich schon allerhand Personen befanden. Wir stiegen zu, obwohl es sehr eng wurde. Weinflaschen machten die Runde. Das Vehikel schnaubte, dampfte, zischte, ratterte und knatterte. Langsam ging es über die siebenbürgische Hügellandschaft. Vielleicht verliebte ich mich in diesem Moment in den sanften Landstrich. Ich glaube es jedenfalls. Plötzlich bremste der Fahrer vor einem Restaurant am Straßenrand. Wir wurden eingeladen. Mit der Speisekarte, die man uns in die Hand drückte, waren wir total überfordert. Das bemerkte die Kellnerin und fragte uns deshalb auf Hochdeutsch: „Was möchten Sie denn essen. Wir haben…“ Diese Hilfestellung beflügelte die eigene Bestellung ungemein.

Nach dem Zwischenstopp kroch die Dunkelheit übers Land. Das Fahrzeug wollte auch nicht mehr. Es streikte! Nun waren wir schon seit Wochen unterwegs und hatten Dreck und Staub geatmet, zugleich aber auch einen Hauch von Freiheit. Wieder einmal hielten wir eine „fahrende Kiste“ an und baten darum, uns ein Stück mitzunehmen. Dieses Mal landeten wir in der flachen Einöde Westrumäniens. Wir liefen flugs zu dem nächstgelegenen Motel und bezogen wie so oft damals eine Schlafstelle unter freiem Himmel. Der Ruheplatz auf der Streuobstwiese machte einen beschaulichen Eindruck. Die Gänse schnatterten heftig und marschierten in Reih und Glied an den Utensilien der hier wild Campenden vorbei. Das schmucklose Motel befand sich nur wenige Meter von diesem idyllischen Standort entfernt. Gisa verspürte plötzlich den Wunsch nach einer Morgentoilette. Mit wenigen Habseligkeiten betraten wir deshalb den Eingangsbereich der Herberge und versuchten mit Händen und Füßen dem anwesenden Bedienungspersonal das wichtige Anliegen vorzutragen. Die Angestellten reagierten mit einer Gegenfrage. Sie wollten wissen, ob wir noch etwas Kaffee zu verkaufen hätten. Eine Bitte, die wir ihnen nicht erfüllen konnten. Dennoch waren sie höflich zu uns. Wir durften sogar in ihrem Haus warm duschen. Es spielte keine Rolle, dass wir uns nur wenige Stunden zuvor unangemeldet als „blinde Passagiere“ auf dem Gelände einquartiert hatten. Wirklich interessiert hat das damals in diesem realsozialistischen Ostblockland niemanden. Selbst die allgegenwärtige Polizei konnte dort fast überall mit kleinen Aufmerksamkeiten zufriedengestellt werden. Zeit zum Innehalten blieb seinerzeit nicht. Tramps sind immer auf Achse.

Aber nach der abenteuerlichen Anhaltertour hat sich unser Trio immer wieder Zeit genommen, über die Erlebnisse in Bulgarien und Rumänien zu sprechen. Für mich waren diese Trampwochen ein Lockruf, fortan so oft wie möglich per Anhalter Osteuropa zu erkunden, insbesondere die einzigartige Geschichte Siebenbürgens und seiner Bewohner.

 

Seit Jahrzehnten reist Roland Barwinsky nach und durch Siebenbürgen im jetzigen Rumänien. Von seinen vielen Erlebnissen erzählt er am 13. Mai ab 14 Uhr im Kunsthaus Müller Wurzbach.

 

Veröffentlicht in Aktuelle Ausgabe, Geschichte.