„Es zieht mich überhaupt nichts hin“

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Ausgabe Nr. 2453
 

Eine Unterhaltung mit der Autorin Ursula Ackrill in Hamburg

 

Mit ihrem Debütroman „Zeiden im Januar“, der zu Beginn des Jahres 2015 erschienen und direkt zum Leipziger Buchpreis nominiert worden ist, legt die Autorin Ursula Ackrill eine steile Karriere hin. 1974 wurde Ursula Ackrill in Kronstadt geboren. In Hermannstadt besuchte sie das Pädagogische Lyzeum, in Bukarest studierte sie Germanistik und Rumänisch-Orthodoxe Theologie. Danach wanderte sie nach England aus und promovierte mit einer Dissertation über Christa Wolf. In Nottingham ist sie verheiratet und arbeitet dort als Bibliothekarin und Schriftstellerin.

Mit Ursula Ackrill sprach die Berliner HZ-Korrespondentin Christel Wollmann-Fiedler am Rande einer Lesung in Hamburg.

 In einer zauberhaften Landschaft Europas bist Du geboren worden. In Kronstadt im Karpatenbogen, unterhalb der Zinne. In Siebenbürgen warst Du zuhause, weit weg bist Du gezogen über die Karpaten nach Westeuropa bis auf die Britische Insel nach Nottingham, der Stadt Robin Hoods, wie die Legende sagt. Ja, von den Siebenbürger Sachsen zu den Angelsachsen. Ist das Zufall oder gewollt?

Eigentlich ja, wahrscheinlich beides. Der Zufall spielt eine große Rolle. Ich habe England durch Zufall entdeckt. Damals war ich gerade Anfang zwanzig, meine Eltern und die gesamte Familie waren bereits ausgewandert nach Deutschland, und ich konnte mich nicht entschließen, auszuwandern. Ich bin geblieben und habe mein Studium in Bukarest abgeschlossen. Das war meine Wahl. Das Studium in Deutschland zu machen, wäre eine gute Lösung gewesen, aber ich wollte rumänisch-orthodoxe Theologie studieren, Rumänien aus rumänischer Perspektive – von innen heraus – verstehen. Auswanderung hätte diesem Versuch Abbruch getan. Meine Bereitschaft, Rumänien zu verlassen, war gehemmt. Ich wollte verstehen, warum Rumäniendeutsche nicht mehr in Rumänien bleiben wollten, wo sie Städte errichtet, Dörfer gegründet, die Landschaft geprägt hatten. Sie zogen stattdessen in deutsche Vorstädte, wohnten in Miete, empfingen Sozialhilfe, Arbeitslosenhilfe, ihre Ausbildung war oft ungültig für den deutschen Arbeitsmarkt. Oft hatte das einen sozialen Abstieg zur Folge, typisch für Immigranten erster Generation. Dass es den Rumäniendeutschen sofort besser ginge, war offensichtlich nicht der Fall.

Ich war so gut wie nie mehr in Siebenbürgen. Das wäre eine Leistung, das könnte ich einfach nicht schaffen. Es zieht mich überhaupt nichts hin. Es ist kein Thema mehr für mich.

Wo hast Du Deine Schulzeit verbracht? Warst Du in einer deutschen Schule? Sind Deine Eltern Siebenbürger Sachsen? Hat  der heutige Staatspräsident Klaus Johannis Dich in Physik unterrichtet?

Ja, mein Vater ist Siebenbürger Sachse, meine Mutter Rumänin, beide kommen aus Zeiden. Deutscher Kindergarten, deutsche Schule, Pädagogisches Lyzeum in Hermannstadt, wo es eine deutsche Abteilung gab, nicht das Brukenthalgymnasium. Im Pädagogischen Lyzeum wurden Grundschullehrer für deutsche Schulen ausgebildet. Mit dem Bakkalaureat habe ich dort abgeschlossen. Der heutige Staatspräsident Klaus Johannis war tatsächlich mein Physiklehrer. Nur hat Physik mich nicht so stark geprägt… Es war nicht mein Lieblingsfach.

Germanistik studieren heißt nicht, dass gleich ein Roman in deutscher Sprache geschrieben wird, der dann direkt für den Leipziger Buchpreis nominiert wird. Eine steile Karriere für einen ersten Roman. Hat Dich das überrascht?

Ich konnte nicht früher anfangen zu schreiben, weil mein Leben nicht stabil genug war. Ich brauchte zum Schreiben eine gewisse Sicherheit, eine Grundlage,  ein festes Einkommen, eine Möglichkeit, Teilzeit zu arbeiten. Es ist mir auch wichtig, in einer gut funktionierenden Partnerschaft zu sein, die mir ein Gendergleichgewicht gibt. Alle diese Etappen haben zuvor in meinem Leben den Platz eingenommen bis ich bereits fünfunddreißig war. Wenn man sich mit dem ersten Thema auseinandersetzt, denkt man nicht, dass dieser Text gleich gelesen wird. Man denkt – mir ging das so – dass niemand diesen Text jemals lesen wird. Umso größer die Überraschung, wenn er dann viel gelesen und diskutiert wird.

Hast Du zuvor Essays oder anderes geschrieben und welche Themen waren das?

Für meinen Bachelor in Bukarest habe ich über Fontane geschrieben. Für meinen Master in der Informationswissenschaft an der Loughborough Universität schrieb ich über Art Spiegelmans „Maus“. Mit dem Bachelor aus Bukarest bin ich nach England ausgewandert und habe mit einer Dissertation über Christa Wolf promoviert.

Warum über Christa Wolf?

Das war ein Zufall. In dem Thema war mein Doktorvater sachverständig. Ich wollte einfach auf Nummer sicher gehen und überzeugt sein, dass das, was ich schreibe, Qualität hat.

Damals bekam ich keine Arbeit in den bereits abgeschlossenen Studien. Es gab sehr wenige wissenschaftliche Stellen an den britischen Universitäten. Zu wenige Studenten bewarben sich um ein Deutschstudium. Viele German Departments wurden daraufhin dicht gemacht.  Während meines Doktorstudiums kriselte es schon Ende der 90er Jahre.  So entschied ich mich für einen Postgraduierten Studiengang, die Informationswissenschaft an der Loughborough Universität.

Deine Eltern lebten bereits in Deutschland, Du bist aber nicht nach Deutschland gegangen. Warum?

Das ist eine schwierige Frage. Ich konnte damals in Deutschland einfach nicht Fuß fassen. Deutschland kannte ich nur oberflächlich. Wenn man etwas abstrakt kennt und damit konfrontiert wird, möchte man es eigentlich nicht mehr kennenlernen. Als Auslandsdeutsche, als Siebenbürger Sächsin, hörte ich viele Jahre von Deutschland und über Deutschland, man bezieht sich darauf. Man hat ein bestimmtes Bild des Landes, doch hatte ich nicht die Überzeugung zum Einstieg, das war dann sehr schwer. Ich fühlte mich nicht informiert genug, um objektiv einzuschätzen, in welchem Verhältnis das rumäniendeutsche Selbstverständnis zum bundesdeutschen steht. Ich hatte ein gemischtes Verhältnis zu Deutschland. Mit der Realität konfrontiert zu werden, war zu konkret und zu aufeinmal. Ich war unvorbereitet.

Großbritannien war Dir übersichtlicher, einfacher für Dich?

Ich habe mich da sofort sehr, sehr gut gefühlt. Auch wollte ich eine Distanz zu Deutschland bekommen, um mich in England einzurichten. In Deutschland war alles so kompliziert, so schwierig. Man ging nach Deutschland und wenn man dort war, war man nicht so richtig da.  Das mit der Sprache ging, aber die sozialen Konventionen musste man lernen, man musste sich ein neues Verhältnis zum Staat erarbeiten, die Usancen der Demokratie in Deutschland erlernen, ein politisches, soziales, kulturelles Verhältnis zur deutschen Gesellschaft aufbauen. Also, wie auf dem Arbeitsmarkt ganz unten anfangen. Ich war verwirrt: sind wir denn wildfremd? Ist nichts übertragbar? Ich wollte erstmals für mich selbst herausfinden: wo befinden sich die Rumäniendeutschen objektiv gesehen in der deutschen Gesellschaft – welcher Status steht den Rumäniendeutschen zu?

Fühlst Du Dich heimatlos, nachdem Du Rumänien den Rücken gekehrt hast – fühlst Du Dich als Immigrantin in Großbritannien?

Überhaupt nicht, nein. Heimatlosigkeit ist ein negativer Zustand. Ich bin überall zuhause, wo ich meine Sicherheit habe, die mich stabilisiert, meiner Kreativität freien Lauf lässt. Ich wäre viel weniger zuhause in Rumänien als in England oder einem anderen Land meiner Wahl. Frankreich käme auch in Frage. Heimat bedeutet ein Ort, wo ich politisch vernetzt bin, wo ich einen kulturellen Beitrag leisten kann zur Kultur der Gesellschaft, wo ich Verantwortung übernehme für andere Menschen und eine Gemeinschaft um mich habe. Wenn diese Faktoren präsent sind, bin ich dort zuhause.

Für Außenstehende, die nicht einmal wissen, wo Siebenbürgen, Kronstadt oder gar Zeiden liegt, ist der Inhalt Deines Romanes manchmal ein wenig schwierig zu verstehen. Sollte sich der Leser zuvor mit der Historie der deutschen Minderheit inmitten der Karpaten belesen?

Es gibt Romane über Neu Guinea. Da weiß auch niemand etwas. Wenn man einen Roman verstehen will, der in einer Landschaft spielt, wovon man keine Ahnung hat, dann informiert man sich im voraus oder während des Lesens. Ich google sehr häufig beim Lesen. Der Leser hat sicherlich ein Recht darauf, sich ein Bild zu machen. Doch sollte man es dem Leser auch nicht zu einfach machen, bloß weil der Handlungsort außerhalb von Deutschland liegt.

Du versuchst im Roman die Situation 1941 in Zeiden und Bukarest zu schildern. Deine Geschichte spielt in einer Zeit, als in Deutschland die Synagogen bereits heruntergebrannt waren und die jüdische Bevölkerung in Konzentrationslager deportiert wurde. Kaum jemand spricht in Rumänien diese Zeit an, weil man sie überhaupt noch nicht aufgearbeitet hat. Erzähl mir, wie es den Juden in Siebenbürgen oder in Bukarest erging?

Ich glaube, es ist eine Frage der Zeit, es wird schon noch dazu kommen. Es gab einfach zu viele Ereignisse nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. Die Verarbeitung des Vermächtnisses der Securitate muss erst einmal ins Reine gebracht werden, dann die Korruptionsskandale der Regierungsbeteiligten nach 1989. Es wird allerdings noch einige Jahre dauern. Doch es gibt schon Dokumentarfilme, es wird darüber gesprochen, auch Bücher zu diesem Thema gibt es bereits.

Die Situation der Juden in Siebenbürgen und Bukarest war sehr unterschiedlich. In Bukarest lebte die jüdische Bevölkerung in bestimmten Vierteln, in bestimmten Straßen. Man konnte sie sehr viel leichter finden. Es war die Zeit, als die Legionäre die Praxis der Rumänisierungskommissare aufgebaut hatten. Ein schöner Name für Raubrittertum. Man durfte die Juden ausrauben. Man ging von Haus zu Haus, griff zu, nahm sich alles, plünderte.

Während des Putsches, als die Legionäre sich mit dem Rücken an der Wand sahen, als sie merkten, dass der Putsch ihnen nicht gelingen wird, haben sie in den letzten Tagen ihrer Macht alles unternommen, um sich zu bereichern. Sie haben Juden nicht nur ausgeraubt, es gab Vergewaltigungen und Morde. Einhundertfünfundzwanzig sind bekannt, sicherlich waren es mehr. Schlimme Pogrome waren in Bukarest 1941. Die Zahl der Toten ist sehr groß, doch im Vergleich zu anderen Pogromen, die damals in Rumänien stattfanden, ist sie nicht so groß. Ein wichtiges Element dieses Pogroms, was mich sehr berührt hat, war der Sadismus und die Grausamkeit der Tortur, die den Juden zugefügt worden ist in den Kellerräumen der Polizei, wo sie gefangengehalten wurden. Diese Torturen waren so unvorstellbar grausam, dass sie nach psychologischer Kriegsführung anmuteten. Ich las in den Berichten der Überlebenden und hatte das Gefühl, dass diese Behandlung ihr Sicherheitsgefühl endgültig kontaminiert hat und Rumänien deswegen für sie nie mehr eine sichere Heimat sein konnte. Über die große Auswanderung der Juden aus Rumänien wird zu wenig gesprochen. Man spricht über die Auswanderung der Sachsen, weil sie so viel zurückgelassen haben, aber die Juden sind auch so massiv ausgewandert. Sie konnten mit Rumänien einfach nichts mehr anfangen.

Du erzählst, dass junge Männer in die SS nach Deutschland gingen. Sie zogen die deutsche Uniform der rumänischen vor, schließlich gehörte Siebenbürgen seit 1918 zu Rumänien. Ich erinnere mich, dass jemand sagte: „Wir waren deutscher als die Deutschen“. Andere gingen „heim ins Reich“, auch eine Geschichte, die in Deutschland kaum jemand kennt. Du hast die Geschichten ausgegraben, warum?

Das hat sich einfach so aufgedrängt in meinen Überlegungen, in meinem Nachdenken. Ich fand es irgendwann wichtig für mein eigenes Selbstverständnis, diese Geschichten auszuleuchten, sie richtig zu verstehen. Die Leerstellen, die Geheimhaltung, das Schweigen, gaben dieser Geschichte ihren eigenen Antrieb, endlich ans Licht zu kommen. Ich habe gemerkt, dass ich diese Geschichte zuallererst erzählen will. Ich hatte verschiedene Narrative im Hinterkopf, aber dies wollte ich dringend erzählen. Es hat mit der Tatsache zu tun, dass dieses verschwiegen wurde und über die Jahrzehnte verschüttet geblieben ist. Mir kam das Thema besonders interessant vor, nachdem ich durch Christa Wolf und andere Autoren von Vergangenheitsbewältigung in der Kultur hierzulande erfahren hatte. In meiner siebenbürgischen Familie herrschte darüber meist Schweigen, die Diskussion hat durch Abwesenheit geglänzt. Was ich aber doch mitbekommen habe, war eine Art Nichtrealität, eine Art ungerechtfertigte Wärme gegenüber dem Nationalsozialismus. Das kam sicherlich daher, dass die Nationalsozialisten die Rumäniendeutschen in ihrem Selbstbild gestärkt hatten. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte sagte ihnen eine Übermacht: „Ihr habt es richtig gemacht, dass Ihr Deutsche geblieben seid, das ist gut so“, Beifall, Beifall. Obwohl die Rumäniendeutschen in den 70-er und 80-er Jahren, als ich aufwuchs, von den Vernichtungslagern ganz gut Bescheid wussten, es auch nicht dementierten, blieb diese Anhänglichkeit, weil es nie diskutiert worden ist. Es durfte nicht erörtert werden.

Lesungen in Deutschland hast Du bereits gehabt. Welche Fragen gab es von den Zuhörern?

Die erste Frage: „Wie können Sie behaupten, dass die siebenbürgisch-sächsische Kultur keine führende Rolle in Rumänien gespielt hat?“  Es gibt immer noch diesen Glauben, bei den Siebenbürger Sachsen, die in Deutschland leben, dass ihre Kultur die Leitkultur des Landes gewesen ist, dass sie viel erreicht haben. Sie gaben sich noch nicht mal die Mühe, mit der Mehrheitskultur zu kommunizieren. Was sie produzierten, machten sie für sich selbst. Sie versuchten gar kein Gespräch, keinen Dialog. Das hat mich krank gemacht.

Die andere Frage: „Warum erscheint eine Geschichte über dieses Thema erst jetzt?“ Bei vielen Rumäniendeutschen, Banater Schwaben und Siebenbürger Sachsen gab es eine Erleichterung, dass dieser Roman geschrieben wurde. Es wurde mir klipp und klar gesagt: „Warum erst jetzt, hätten wir gerne zehn, zwanzig Jahre früher gehabt".

Ich hoffe, dass das Buch eifrig gekauft und gelesen wird, interessant und neu im Sprachduktus ist es allemal, einfach lesenswert, schließlich war es für den Leipziger Buchpreis nominiert. Ich danke für das schöne Gespräch.

 

Ursula Ackrill.

Foto: Christel WOLLMANN-FIEDLER

 

Ursula Ackrill: Zeiden im Januar. Klaus Wagenbach Verlag Berlin 2015, 256 Seiten, ISBN 978-380-3132-680. In Hermannstadt im Erasmus-Büchercafé und in der Schiller-Buchhandlung zu kaufen.

 

 

Veröffentlicht in Aktuelle Ausgabe, Bücher.