Erfrischend neuartig

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Ausgabe Nr. 2411
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Lektüre für die Zeit zwischen den Jahren

 

Weihnachten kommt immer so schnell und als leidenschaftlicher Leser will man nicht nur sich selbst, sondern auch Verwandte und Freunde mit guten Büchern beschenken. Die Zahl der deutschsprachigen Neuerscheinungen zur herbstlichen Buchmesse in Frankfurt war riesengroß und die Auswahl dementsprechend schwierig. Drei Titel sollen hier vorgestellt werden, alle erfrischend neuartig und gleichzeitig nostalgisch im besten Sinne – passend zur Weihnachtszeit.

 

Das erste Buch ist eine echte Entdeckung. Zwar kennen fast alle den weltberühmten Autor Alexandre Dumas (1802-1870), der uns spannende Abenteuerromane wie „Die drei Musketiere“ und „Der Graf von Monte Christo“ beschert hat. Der bisher noch nie in deutscher Übersetzung erschienene Roman „Ein Liebesabenteuer“ hingegen erzählt eine autobiographische Episode aus Dumas’ späten Lebensjahren. Überraschend wird Dumas 1856 von der 25-jährigen ungarischen Schauspielerin Lilla Bulyowsky besucht. Sie bittet ihn, sie in die Welt der Pariser Künstler einzuführen. Der alternde Frauenheld erhofft sich eine neue Eroberung, doch die charmante Schauspielerin macht ihm klar, dass sie glücklich verheiratet und Mutter eines Sohnes ist. Dumas begleitet sie auf der Reise von Paris über Brüssel, Köln, Koblenz und Mainz bis nach Mannheim, wo Lilla Schauspielunterricht bei Sophie Schröder nehmen will, die noch Goethe und Schiller gekannt hat. Die Schilderung der gemeinsamen Rheinreise ist gespickt mit zahlreichen Informationen über Land und Leute. Dumas schätzt die Deutschen, auch wenn er ihre Eigenarten ironisch kommentiert. Zwar bleibt die Beziehung zu Lilla platonisch, doch immer wieder gibt es Situationen voll knisternder Erotik. Das eigentliche Abenteuer ist eine leidenschaftliche Liebeserfahrung, die Dumas – als Geschichte in der Geschichte – seiner Reisegefährtin erzählt. Ein mit typisch französischer Leichtigkeit verfasstes Buch, das ich nur empfehlen kann.

Eine Liebesgeschichte anderer Art hat der Schauspieler, Autor und Fotograf Hanns Zischler (geb. 1947) vor kurzem veröffentlicht: „Das Mädchen mit den Orangenpapieren“ (Galiani Verlag). Sie spielt Ende der 50-er Jahre im Chiemgau (Oberbayern). Die leicht gehbehinderte Elsa ist mit ihrem Vater von Dresden hierher gezogen und besucht ein Internat am Ort. Später erfahren wir, dass ihre Mutter kurz vorher in der DDR verstorben ist. Elsa fremdelt mit der neuen Umgebung, da sie mit sächsischem Akzent spricht und den bayrischen Dialekt nicht versteht. Allmählich findet sie jedoch Freunde: den „Asampauli“, die englische Schülerin Saskia, den verständnisvollen Lehrer Kapuste. Dieser weckt in ihr die Leidenschaft für die hauchdünnen, bunt bedruckten Papiere, in die Orangen eingewickelt werden, um den Transport aus Italien oder Spanien zu überstehen. Als Pauli sie eines Tages zu Hause besucht, um ihre exotischen Orangenpapiere zu sehen, verführt sie ihn. Wenig später hat Pauli einen Unfall, den er überlebt. Saskia fährt nach England zurück, schreibt aber tolle Briefe in deutsch-englischem Kauderwelsch. – Dem Autor, der wohl selbst dieses Internat besucht hat, gelingt es, die Atmosphäre jener Zeit mit einem Schuss Melancholie wieder auferstehen zu lassen. Bei einer öffentlichen Lesung erwähnte er, selbst dem Orangenpapier-Sammeltrieb verfallen zu sein …

Der Ich-Roman „Schneckenmühle“ von Jochen Schmidt (geb. 1970) ist ebenfalls eine Pubertätsgeschichte, die im Sommer 1989 in der DDR spielt. Jens, der gerade 14 geworden ist, darf zum letzten Mal ins Jugendferienlager mit dem ulkigen Namen „Schneckenmühle“. Der mehrwöchige Aufenthalt löst Erwartungen, aber auch Ängste bei ihm aus. Er ist schüchtern, kann nicht tanzen und kommt nicht gut bei Mädchen an. Das ändert sich, als die Außenseiterin Peggy ihn braucht. Sie hat sich in ein Versteck geflüchtet und Jens soll sie mit Essen versorgen. Doch dann überstürzen sich die Ereignisse…

Zu seinem autobiographisch inspirierten Buch äußerte sich Schmidt wie folgt: „Ursprünglich wollte ich nur dieses Ferienlager-Gefühl beschreiben. Man ist nie wieder so unbekümmert, was die Zukunft angeht, wie in dieser Zeit. (…) Es war dann aber interessanter, die Geschichte in die Zeit der Wende zu verlegen.“ – So schließt die Erzählung damit, dass Jens’ Eltern ihn aus dem Ferienlager rausholen, um mit ihm und seinem älteren Bruder über Ungarn in den Westen zu flüchten: Ende offen …

„Schneckenmühle“ wurde in diesem Jahr zum „Buch für die Stadt“ in und um Köln gewählt. Es wurde in Schulen gelesen und der sympathische Autor trat am 9. November, seinem 44. Geburtstag, in Köln öffentlich auf. Das Publikum durfte viel Interessantes über seine Kindheit in einer Ost-Berliner Plattenbausiedlung erfahren und zeitgenössische Bilder sehen. Schmidt machte immer wieder deutlich, dass die Jahre in der DDR keineswegs öde gewesen seien. – Übrigens hat sich Schmidt längere Zeit in Rumänien aufgehalten und das Land mit seinen Bewohnern in dem Buch „Gebrauchsanweisung für Rumänien“ liebevoll und ironisch porträtiert (Piper Verlag 2013).

Die drei vorgestellten Bücher sind allesamt keine „schwere Kost“, sondern flüssig geschrieben, amüsant und dennoch lehrreich, mit einem Wort: lesenswert – auch im nächsten Jahr. Frohe Weihnachten, alles Gute für 2015 und – lesen Sie gut!

Konrad WELLMANN

 Jochen Schmidt: Schneckenmühle. Langsame Runde, Roman, C. H. Beck Verlag München, 2013, 220 Seiten, ISBN: 978-3-406-646980-0

Alexandre Dumas: Ein Liebesabenteuer. Manesse Verlag Zürich, 2014. Aus dem Französischen von Roberto J. Giusti, 208 Seiten, ISBN: 978-3-7175-2190-7

 

 

 

Veröffentlicht in Aktuelle Ausgabe, Bücher.