Weniger wäre mehr…

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Ausgabe Nr. 2386
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Zu Dieter Roths Roman Der müde Lord"

 

484 Seiten hat der Verfasser Dieter Roth dafür aufgewandt, um den in Bukarest verbrachten Lebensabschnitt seines alter ego Christian Rosenow literarisch aufzubereiten. Es handelt sich immerhin um prägende Jahre – Christian Rosenow zieht, wie schon vor ihm einige bildungshungrige Roman- oder Novellenhelden, „durchs Gebirge“ in den Süden.  Das ist in diesem Fall die Reise aus dem fiktiven Burgstedt über Kronstadt nach Bukarest, der Landeshauptstadt von Rumänien. Dort will er in der Redaktion der deutschen Tageszeitung „Neues Land“ unterkommen, um sich dadurch ein Studium der Germanistik finanzieren zu können.

 Damit beginnen für uneingeweihte Leser auch schon die Schwierigkeiten. Denn die Namen, Personen- wie Ortsnamen, sind teils real, teils fiktional, teils rudimentär fiktionalisiert. Kronstadt und Bukarest sind mit eventuellem Nachschlagen der rumänischen Bezeichnung durchaus auf der Landkarte zu finden, Burgstedt hingegen wird man vergeblich suchen. Alfred Margul-Sperber und Paul Celan dürfen ihre Klarnamen behalten, aus Immanuel Weißglas wird jedoch Immanuel Glass, Alfred Kittner wird zu Alfred Kyttner, aus Hans Liebhardt wird Hans Lipphardt, andere Namen sind wiederum nur für Kenner der Materie realen Personen zuordenbar.

Warum das so sein muss, ist durchaus verständlich – werden doch den fiktionalisierten Schriftstellern Aussagen in den Mund gelegt, die zumindest anfechtbar sind. Und damit ist schon der zweite Schwachpunkt des wohl als Schlüsselroman gedachten Werks angerissen. Auf eine zuweilen langatmige, selbstgefällige, aber immer noch interessante Darstellung der Bukarester Verhältnisse Ende der 1950er Jahre – sei das die Art und Weise wie sich die Leute mit der ständigen Bedrohung durch Spitzel, regimetreue Kollegen und Nachbarn oder Sicherheitsdienste arrangierten, sei es der Universitätsbetrieb – folgt ein Rundumschlag gegen Schriftsteller, Studienkollegen, Leute aus dem damaligen Literaturbetrieb, der sich gut über die Hälfte des Romans hinzieht. Kaum eine der Gestalten kommt ungeschoren davon, unter dem Deckmantel der Fiktion werden Gerüchte, Unterstellungen, diskutierbare Werturteile und Charakterisierungen als bare Münze ausgeteilt und das zuweilen sprachlich auf Stammtischniveau, obwohl der Protagonist Rosenow sich in den zahlreichen, ermüdenden, im Oberlehrertonfall mit seinen Freunden geführten Gesprächen im Sinne der Aufklärung als Verfechter einer möglichst umfassenden Bildung und damit implizite eines entsprechenden Sprachwissens erweist.

Die zeitgeschichtlich durchaus relevante und mit Interesse zu lesende Schilderung der Arbeit in der Redaktion des „Neuer Weg“ (im Roman „Neues Land“) nimmt einen breiten Raum ein; immerhin handelte es sich um eine im kommunistischen Rumänien nach dem  Zweiten Weltkrieg explizit für die Belange der deutschen Minderheit gegründete deutschsprachige Zeitung.

Die Darstellung der anschließenden Tätigkeit Christian Rosenows als Verlagslektor beim Juventus- und Helikon-Verlag (eigentlich Jugendverlag und Kriterion) bietet dem interessierten Leser einen Einblick in den deutschsprachigen Literaturbetrieb Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre, eine politische Tauwetter-Periode, in der sich die in Rumänien verfassten literarischen Werke deutscher Autoren zu einer auch im Ausland wahrgenommenen fünften deutschen Literatur verdichteten.

Dementsprechend möchte man dem Verfasser zurufen: Weniger ist mehr! Das gilt auch für die neun eingefügten Caprichos, deren Bezeichnung in Anlehnung an Goyas Zeichnungen wohl auf ihren sozialkritischen Inhalt deuten soll. Wenn aber ein Großteil des Rahmentextes zwischen sarkastisch und boshaft changiert, sind solchermaßen benannte Einschübe eigentlich hinfällig. Inhaltlich könnten einige bei geringfügiger Bearbeitung nahtlos in die Romanchronologie eingebaut werden.

Durch eine Verschlankung des Romans auf die zeitgeschichtlichen Schilderungen wäre er kurzweiliger und würde zum bleibenden Zeugnis einer bewegten Zeit.

Wie aber kam der Titel zustande, den jeder Leser am Ende durchaus auch auf sich beziehen könnte?

Nun, Christian Rosenow trägt Rock und Krawatte, obwohl das eben eher „lordhaft“ als proletarisch ist, weshalb Franziskus Barsa, dem die Aufsicht und Koordination der Lokalkorrespondenten in den Siebenbürger und Banater Städten obliegt, ihn mit „der müde Lord“ tituliert; „es kann aber auch sein, dass Christians Interesselosigkeit in manchen Dingen, die Barsa wichtig waren, in diesem den Eindruck erweckte, der hochgewachsene, schlaksige junge Mann aus Burgstedt sei von angelsächsischem Phlegma beseelt.“             

Sunhild GALTER

 

Dieter Roth: Der müde Lord. Roman, Rhein-Neckar-Zeitung, 2013. 483 S., ISBN 978-3-936866-46-9. Umschlagbild: A portrait of the author as a young man

 

 

 

 

Veröffentlicht in Aktuelle Ausgabe, Kultur.